Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)

Titel: Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wibke Bruhns
Vom Netzwerk:
Beute, Maschinen, Forstwirtschaft, Ernährung der Landeseinwohner, Verteilung der Vorräte, Ordnungspolizei, Sanitäre und Veterinäre Angelegenheiten, Nachrichtendienst. Ob das Kurt nicht vertraut vorkomme, fragt der Sohn und findet: »Jedenfalls bin ich ziemlich unentbehrlich.« Kurt lakonisch: »Dümmer wirst Du davon nicht.«
    Die Deutschen richten sich ein auf eine längere Zeit am Ort, zumal der Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 nach strapaziösem Hin und Her schließlich unterschrieben worden ist. Erwartungsgemäß gingen Livland und Estland, Litauen sowieso, für Rußland verloren. Die Russen hatten den Knebelvertrag unterzeichnet, weil Lenin im eigenen Land den Rücken frei haben wollte für die Revolution und er im übrigen erwartete, daß dieses Vertragswerk bei der Schwäche der Deutschen und Österreicher sowieso nicht lange Bestand haben würde. Damit lag er nicht falsch. Doch niemand hatte auf der Rechnung, wie chaotisch sich die russischen Verhältnisse gestalten würden, und so gibt es – anders als in Litauen – jetzt tatsächlich Banden von Jugendlichen, die sich »neurevolutionäre Armee« nennen und die deutschen Soldaten beschäftigen. HG kann seinen Grundkurs in Verwaltung erstmal aufgeben und lauert wie alle anderen in voller Montur irgendwo im Schnee:
    »Wir warten, um die ›neurevolutionäre Armee‹, wenn sie sich etwa dumm benimmt, gehörig zu empfangen. Genügend Stricke halten wir auch schon bereit, denn von diesen Friedensbrechern, den Judenlümmels der Roten Garde, wird jeder aufgebaumelt, der das Glück hat, uns in die Hände zu fallen. Vor einigen Tagen baumelten übrigens auch in unserem Dorf drei rote Gardisten, Schwerverbrecher, die einen Gutsbesitzer aufs grausamste gequält und dann ermordet hatten. Schade, daß keine Sonne zum Photographieren war, die Kerls machten sich gut, nebeneinander an dem Ast einer großen Fichte. Jetzt hören wir aber, daß die Bolschewiki sich doch noch besonnen haben, ihre ›Truppen‹ aus der längs der Narowa vereinbarten neutralen Zone zurückzunehmen und sich zur Ratifikation des Friedens bereit erklärten. Damit sparen sie unseren Pferden den Gewaltmarsch nach Petersburg.«
    Lasse ich die »Judenlümmel« unkommentiert? Das Wort ist zu dieser Zeit noch nicht das Synonym für Mord und Vernichtung, es ist erst der sich anbahnende Weg dorthin. In HGs halbstarker Überheblichkeit ist der Begriff eine Floskel für die Furcht vor den »anderen«, derer man sich am besten im Schutz des Elite-Denkens in der eigenen Gruppe erwehrt – »Nigger« ist so etwas in Amerika, »Zecken« nennen die rechten Schlägertrupps von heute ihre Gegner. Aber da ist er wieder, dieser Ton. Nicht ganz so schlimm wie beim Tod des russischen Rittmeisters, denn vermutlich wird HG die Männer nicht selbst »aufgebaumelt« haben. Das läßt man Soldaten machen. Doch ich spüre die für HG ungewöhnliche Pöbelei, seinen Versuch, sich das Ganze vom Hals zu halten. Ich spüre die Kraftmeierei und die Angst.
    Die verliert sich in HGs normalem Tageslauf, wo er morgens um vier mit baltischen Rittern auf Auerhähne ansitzt und nach einem fürstlichen Frühstück in sein Kommandantur-Büro geht zu Volks- und Viehzählung, Ernährungsplänen für Bevölkerung und Truppe und einem zufriedenen Rittmeister. Mit dem gemeinsam genießt er die Katalogisierung aller Verwaltungsvorgänge – »der ist auch so ein Ordnungsfatzke, der jedes Schrank- und Regalfach mit einem Etikett bezeichnet«. HG schwelgt in »Tageb.-Nr.« und »Akten-Zeichen«, in Abkürzungen wie »Abw.«, »Fa.«, »Ben«, »Sa«, »Fo«, »Rei«, »Esr« und ähnlich Unverständlichem: »Das habe ich ja von jeher gern gemacht, nur hatte ich in so großem Maßstab bisher noch keine Gelegenheit dazu.« Er ist wirklich der Sohn seines Vaters, die gleiche gradlinige Handschrift, die gleiche Ordnung im Kopf mit erstens, zweitens, drittens. Arme Else! Meine Mutter in ihrem Chaos war umstellt von rechten Winkeln.
    Doch Else ist noch nicht dran. Der junge Mann aber, mit dem sie sich knapp drei Jahre später verloben wird, ist nicht mehr der, den ich bis hierhin begleitet habe. Sein Chaos bricht aus am 22. April 1918, da ist HG 19. Drei Tage später schreibt er an Kurt: »Lieber Vater! Durch meinen Rittmeister wirst Du inzwischen schon von dem Vorfall gehört haben, der mich wohl für mein ganzes Leben zu einem anderen Menschen machen wird. Der Tatbestand ist kurz folgender: An Deinem Geburtstage, dem 22. IV.

Weitere Kostenlose Bücher