Meines Vaters Land: Geschichte einer deutschen Familie (German Edition)
Mark, und Großmutter« – das ist Gertrud – »hatte Angst, ob er auch reichen würde.« Und noch einmal zwischen HGs gestochene Zeilen. »Es war sehr knapp!!!«
HG bekommt nervöse Herzbeschwerden – »ich bin nicht leistungsfähig!« –, er fühlt sich ohnehin wie Sisyphus: »Viel getan mit überhaupt keinem Erfolg.« Er traut sich nicht, für drei Tage zu Wolf Yorcks Hochzeit nach Schleibitz zu fahren, »wir leben vom Vormittag auf den Nachmittag, da kann ich nicht weg«. Er plagt sich mit Magenkrämpfen und Schlaflosigkeit herum: »Den ersten Billiardenscheck unterschrieben, was ist das für eine irrsinnige Zeit!!« Immer häufiger steht im Tagebuch: »Ich bin gnatzig vor Erschöpfung« – »tiefe, schlechte Laune«. Die schwarzen Vögel sind wieder da, und mehrfach stellt HG fest, ganz entsetzt: »Ich quäle Else!«
Sie muß das mit Zuwendung ertragen haben. HG registriert dankbar, »wie zärtlich sie ist« und daß sie seine »politischen Sorgen teilt«. Dazu haben sie allen Anlaß. Kommunisten wie Rechtskonservative planen den Umsturz, der passive Widerstand an der Ruhr mußte wegen völliger Zerrüttung der Wirtschaft aufgegeben werden, in Aachen rufen Separatisten eine Rheinische Republik aus, in der Pfalz passiert wenig später das Gleiche. Hohe Militärs in Bayern planen einen Marsch auf Berlin gegen die »Judenregierung«, in der alles »verebert und versaut« sei. Überall toben Straßenschlachten, und am 8. November 1923 ruft Adolf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller die »nationale Revolution« aus. General Erich Ludendorff – jawohl, der nun wieder! – ist auch hier dabei, Hitler macht ihn zum Oberbefehlshaber der Nationalarmee. HG wundert sich im Tagebuch: »Ludendorff, Hitler – Diktatoren?!!« Der Putsch endet am späten Vormittag des 9. November unter den Kugeln der bayerischen Landespolizei an der Münchner Feldherrnhalle. 16 von Hitlers Gefolgsleuten kommen um, er selbst kann fliehen, wird jedoch zwei Tage später verhaftet – die Vermutung, daß dies Hitlers politisches Ende sei, war weit verbreitet.
Die Herren bekommen milde Strafen, Ludendorff wird von der Anklage des Hochverrats freigesprochen, Hitler und drei Genossen werden zu fünf Jahren Festungshaft und 200 Mark Geldstrafe verurteilt. Das ist Anfang April 1924, und zu Weihnachten sind sie wieder frei. Das Gericht bescheinigt den Putschisten, sie hätten »in vaterländischem Geiste und in edelstem, selbstlosen Willen gehandelt« – ein moralischer Freispruch, den Hitler nutzt. In der Festung Landsberg schreibt er »Mein Kampf«.
Else ist wieder schwanger. Es ist nicht überliefert, ob sie das so toll findet kein Vierteljahr nach Barbaras Geburt. HG freut sich auf dänisch – »jeg er lykkelig!«, aber er muß es ja auch nicht machen. Immerhin wird das neue Kind in politisch friedlichere Zeiten hineingeboren, das »Wunder der Rentenmark«, das die labile Regierung Stresemann am 15. November 1923, acht Tage vor ihrem Sturz noch zustande bringt, konsolidiert die Verhältnisse. Der Dollar steht bei 4.2 Billionen Mark, die Reichsbank setzt daraufhin den Umtausch von 1 Billion Papiermark gleich einer Rentenmark fest, ein Kurs von 1 : 4.20 Mark für den Dollar – so einfach ist das.
Die Rentenmark, das ist die Übergangswährung bis zur Reichsmark, fällt wie ein warmer Regen auf das Land. »Das Geschäft geht plötzlich außerordentlich flott«, notiert HG ins Tagebuch, und Else kauft wieder »Eier und Nudeln zu normalen Preisen«. Die Bilanz von I. G. Klamroth, im Jahr zuvor noch bei zweieinhalb Milliarden windigen Papiermark aufgestellt, beträgt zum 1. Januar 1924 auf beiden Seiten solide 703 961, 22 Goldmark – so heißt die neue staatliche Recheneinheit, die Ordnung in das Chaos bringt. Das ist nicht Vorkriegsniveau, natürlich nicht, zehn Jahre Krieg und Nachkrieg haben Narben hinterlassen. Aber die Firma lebt, sie hat zufriedenstellend gewirtschaftet in diesem Katastrophenjahr, niemand hat mehr als ein blaues Auge davongetragen. Auch HG nicht trotz seiner Ängste. Heiligabend trinken Vater und Sohn wortlos ein Glas Champagner miteinander. HG: »Er hat mir die Hand auf die Schulter gelegt. Wir haben es geschafft!«
Nach Weihnachten fahren Else und HG mit Freunden in den tiefverschneiten Harz zum Skifahren, »sorglos, fröhlich, wunderschönes Winterwetter«. Plötzlich ist die Stimmung im Tagebuch wie ausgewechselt. Es werden wieder Spiele gespielt vor dem Kamin am Bismarckplatz – »Amtmann,
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