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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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ins Schachmatt zu zwingen. Albert musste es geschickt anstellen. Für eine Weile traktierte er sie, verhielt sich angriffslustig und ließ sich dabei drei Bauern, einen Springer und einen Läufer abnehmen. (Alfonsa stichelte, er sei eingerostet.) Dann zog er sich zurück, spielte mit Bedacht und schlug sogar einen ihrer Türme. (Alfonsa summte respektvolle
Hms.
) Insgeheim arbeitete er jedoch daran, seinen König einzumauern und ihm alle Fluchtwege durchs eigene Gefolge abzuschneiden, sodass schließlich die schwarze Dame ausreichte, um ihm den Todesstoß zu versetzen. (Alfonsa unterstrich das mit einem zufriedenen
Ha!
) Albert sah auf die Uhr. Kaum vierzig Minuten gespielt.
    »Reden wir«, sagte er.
    Alfonsa nahm einen der weißen Spielsteine und betrachtete ihn genauer. »Hast du dir wirklich Mühe gegeben?«
    »Ja.«
    »Eine Revanche?«, fragte sie.
    Albert sah sie bloß an.
    »Verstehe.«
    »Ich will, dass Sie mir jetzt sagen, was Sie wissen.«
    Seitdem sie nach Sankt Helena aufgebrochen waren, hatte ein schlechtes Gefühl in Alberts Brust gesessen. Zuerst hatte er gedacht, es sei die Angst davor, erneut in eine Sackgasse zu geraten. Aber er hatte sich geirrt. Es war die Angst davor, in keine Sackgasse zu geraten. Die Angst vor der Wahrheit. Was fängt man mit der Wahrheit an, wenn man sie erst einmal weiß?
    »Wir müssen zum Zwirglstein«, sagte Alfonsa.
    »Zwirglstein?«
    »Ein Berg. Dort gibt es ein Altenheim.«
    »Da ist meine Mutter?«
    »Sie wird da sein.«
    Albert sprang auf. »Sagen Sie mir doch einfach ihren Namen.«
    »Das geht nicht.«
    »Warum!«
    »Es ist kompliziert.«
    »Was kann an einem Namen so kompliziert sein?«
    »Das wirst du begreifen, wenn wir dort sind.«
    »Und wenn ich allein hinfahre?«
    »Dann findest du sie niemals.«
    Albert trat vors Fenster, starrte in die Nacht. Sein Leben lang hatte er gewartet, neunzehn Jahre lang gesucht und gehofft und gewartet, und Alfonsa, die ihn aufgezogen und der er vertraut hatte, diese Frau hätte ihm helfen, sie hätte sein Warten bereits vor langer Zeit beenden können; sie konnte jetzt nicht einfach so mit der Wahrheit herausrücken und sich dabei auch noch verhalten, als sei das vollkommen in Ordnung, er war doch kein fünfjähriger Schachstudent mehr, dem sie Lektionen erteilte, er hatte ein Recht darauf zu erfahren, wie seine Mutter hieß und wer sie war und weshalb sie ihn verlassen hatte.
    Aber als er sich zu Alfonsa umdrehte, um ihr das klarzumachen, saß sie schon wieder hinter dem Schreibtisch und blätterte in Unterlagen und wünschte ihm, ohne aufzusehen, eine gute Nacht.
    Wortlos verließ er ihr Zimmer, ging schnellen Schrittes den Korridor hinunter, weg von ihr, fing an zu rennen, nach draußenund über den Hof, weiter zur Kapelle, in der es kälter war als im Freien, und versteckte sich, wie er es früher getan hatte, im Beichtstuhl.

TEIL VI
     

Kopfschütteln, 1924   –   1930
     
     
     

Anni und die Jemands
     
    Meine Schwester erzählte mir später, sie starrte so lange auf die Rauchschwaden und schwitzte in der Hitze des Feuers, das unser Zuhause fraß, bis jemand ihre Augen zuhielt und sie auf die Schulter nahm und wegtrug.
    Am Morgen darauf wurde Anni mit sanfter Stimme geweckt; sie schlug die Augen auf, um Papa oder Mama oder mir von dem Albtraum zu erzählen   – doch das Licht fiel ungewöhnlich hell durchs Fenster, viel heller als sonst, auch roch es anders, nach Kuhmist, und jemand, irgendjemand, reichte ihr eine Tasse Milch. Später schenkte ihr ein anderer Jemand ein veilchenblaues Kleid. Noch ein Jemand ließ ihr heißes Wasser zum Baden ein, richtiges, extra für sie heiß gekochtes Wasser. Derselbe Jemand, von dem sie das veilchenblaue Kleid bekommen hatte, schlug ihr vor, gemeinsam Kühe zu melken, einen Kuchen zu backen, mit der Katze zu spielen. Aber Anni schüttelte den Kopf. Der Jemand mit der sanften Stimme erklärte ihr, sie könne nie mehr nach Hause und würde von nun an hier leben, bei ihrer neuen Familie. Doch Anni sah keine Familie. Da war nur ein Jemand, noch ein Jemand und noch ein Jemand. Sie schüttelte wieder den Kopf und rief nach Julius. Jemand meinte, ihr Bruder sei nun im Himmel.
Und da schüttelte Anni so lange den Kopf, bis ihr schwindelig wurde und niemand mehr etwas sagte.

Anni und Mina
     
    Anni wusste nicht, dass sie unser Haus angezündet hatte. Ihr acht Jahre altes Bewusstsein schützte sie vor diesem Wissen. Zu ihrem eigenen Schutz lehnte es die Wahrheit ab, wie Anni selbst so

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