Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
kopfschüttelnd. Noch einige Male bemühte sie sich um die Lederstiefel unseres Vaters, musste sich jedoch eingestehen, dass es so gut wie unmöglich war, einem Klöble etwas abzunehmen, das er mochte. Und Mina liebte ihre Stiefel.
Anni und Markus
Mit den Jahren nahm die Aufmerksamkeit, die man Anni schenkte, längst nicht so sehr ab wie Anni selbst. Sie aß nur noch, wenn ihr Magen schmerzte oder die Ohnmachtsanfälle sich häuften – einen Schluck frisch gemolkene Milch zum Frühstück und einen halben Apfel zu Mittag. Abends war sie zum Kauen oft zu müde.
Ihre Wangenknochen traten hervor, warfen Schatten übers Gesicht, und ihre Locken hingen wie ausgeleiert vom Kopf. Kaum eine Stunde lang konnte sie beim Melken helfen, bevor ihr schwarz vor Augen wurde, und wegen ihrer dünnen
Ärmchen musste ein Jemand die Milchkübel tragen. Bei Ausflügen in unser früheres Zuhause überfielen sie krampfartige Hustenanfälle, so konnte sie ihre Sammlung Liebster Besitze nur noch selten erweitern. Frauen winkten ihr, riefen sie zu sich, baten sie herein; die Bäckermeisterin Reindl schenkte ihr Specksemmeln mit Käsekruste, die Wirtin schwatzte ihr Gläser zuckriger Hagebuttenmarmelade auf und die Witwe des Bauern Obermüller ließ sie dickflüssigen Kuchenteig kosten. Kein noch so ausdauerndes Kopfschütteln konnte das abstellen. Und es half auch nicht gegen Blicke.
Gelegentlich, wenn sie im Moorbach badete, überfiel sie Gänsehaut, obwohl ihr gar nicht kalt war, und dann sah sie sich um und stellte fest, dass ein halbes Dutzend Jungs auf der Wiese lag, auf Grashalmen kaute und sie anstierte. Mina erklärte ihr, da sei Anni selbst dran schuld, sie käme nun in das Alter, in dem man blutet. Schulterzucken war die Antwort auf jede von Annis Fragen: Wo, weshalb, wann – und wer war man?
Erst nach Monaten ohne einen einzigen Blutstropfen wichen ihre Sorgen wieder. Anni sagte sich, Mina sei eben ein Klöble.
An einem verregneten Abend im Herbst saß Anni auf dem Wolfshügel im Schutz der Eiche und kämmte sich das Haar mit einem Kamm aus Hirschgeweih. In der Ferne dampfte das Moor. Ab und zu strich sie mit den Fingern über das eingeritzte »Ich liebe dich« auf der sich schlängelnden Wurzel, das von Moos überwuchert wurde. Sie berührte die Wurzel gerne, sie war stolz darauf, dass sie bis auf den Pfarrer Meier als Einzige in ganz Segendorf die Buchstaben lesen konnte.
»Ist dir nicht kalt?«, sagte eine heisere Stimme. Ein Junge
sprang aus dem Geäst der Eiche und landete mit einem Purzelbaum neben ihr. Sofort klopfte Annis Herz heftiger, sie bemühte sich, ihr Haar nicht schneller zu kämmen, und sagte: »Wie lange bist du schon da?«
»Ich konnte dein Haar riechen. Sogar dort oben.«
Markus wirkte auf den ersten Blick schmächtig, er war kaum größer als Anni, doch für seinen Vater, einen Schweinezüchter, brachte er so manche fette Sau zum Metzger Scherfeil; da war zähe Kraft in seinen Armen und Beinen.
»Ich geh jetzt«, sagte Anni.
»Rede doch ein wenig mit mir.«
Anni schüttelte den Kopf. Ihr fiel auf, dass Markus irgendwie anders mit Worten umging, als er das früher getan hatte.
»Du spielst nie mit jemandem. Warum nicht, hast du Angst?«
»Ich muss arbeiten.«
»Jetzt musst du nicht arbeiten.«
Anni stand auf, ohne ihn anzusehen, band ihr Haar zusammen und entfernte sich mit ruhigen Schritten, und das war gar nicht so einfach. Ihre Beine wollten rennen.
»Ich liebe dich«, sagte Markus laut.
Anni blieb stehen.
»Ich liebe dich«, wiederholte er, »das steht da doch, nicht?«
Sie drehte sich um.
»Hast du das geritzt?«, fragte er.
»Nein!«, rief sie. Und dann leiser: »Du?«
»Ich!« Er lachte. »Ihr Haboms, ihr habt doch Bücher gehabt.«
Anni trat von einem Fuß auf den anderen. »Woher weißt du dann, was da steht?«
»Ihr seid nicht die Einzigen, die lesen lernen können.«
»Wer hilft dir? Der Pfarrer?«
»Das willst du gern wissen, ja?«
»Sag schon, wer?«
Markus kaute an einem schwarzen Fingernagel. »Lass mich an deinem Haar riechen. Dann sag ich es dir.«
Anni ballte ihre Fäuste, die Kammzinken stachen ihr in die Haut. »Aber nur kurz.«
Markus lief zu ihr und steckte seine Nase in ihren Haarschopf. Gänsehaut wanderte über Annis Rücken.
»Das reicht.«
»Warum?« Seine heisere Stimme war nun ganz nah an ihrem Ohr, fast in ihrem Kopf, er zog an ihrem veilchenblauen Kleid, sein Atem strich ihren Hals. Die eine Hand schloss sie fest um den Kamm, mit der
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