Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
vieles ablehnte. Über die Monate übte sie sich im Kopfschütteln, trainierte es, sobald andere Kinder sie zum Mitspielen drängten, oder am Mittagstisch, wenn jemand sie bat, mehr zu essen. Oder nach ihrer Erstkommunion, als der Bauer Egler ihr zuflüsterte, ob sie an dem streng gehüteten Geheimnis in seiner Hose interessiert sei. Und einmal, als sie mein »Ich liebe dich« auf der sich schlängelnden Wurzel auf dem Wolfshügel entdeckte und sich fragte, wer das wann geschrieben hatte, da wollte sie gar nicht mehr aufhören, links und rechts und links, mit erhobenem Kinn, starrenden Augen und aufeinandergepressten, weißen Lippen, peitschten die Locken ihre Wangen und wischten die Welt fort.
Im Winter sah unser ausgebranntes, von Schnee umrahmtes Zuhause aus wie ein Schwarz-Weiß-Foto. Dort ging sie auf die Suche, ohne zu wissen, wonach. Es sollte etwas Hübsches, Kleines, Vertrautes sein, zum Andiebrustdrücken und Liebhaben. Mit einem Ast stocherte sie in Aschehaufen, hieb nach Ratten, schrieb »Mama« und »Papa« und »Julius« in den
Ruß. Bei jedem der Streifzüge steckte sie sich etwas ein; daraus wuchs eine Sammlung Liebster Besitze, die sie in einem Korb unter ihrem Bett aufbewahrte und wie einen Schatz hütete: ineinander verschmolzene Haarnadeln, eine in fünf Teile zerbrochene Ofenkachel, der Buchrücken des Kochbuchs, zwei matt glänzende Kerzenständer, ein Weidemesser, eine Handvoll Nägel, Pfeilspitzen, Zähne und vieles mehr. Auf allem lag ein schmierig-schwarzer Film, den Anni nicht wegbekam, sooft sie die Gegenstände auch im kalten Wasser des Moorbachs schrubbte. Und sobald ihr ein Jemand vorschlug, einen davon für das Opferfest auszuwählen, schüttelte sie nur den Kopf und sagte: »Das hat alles schon gebrannt.«
Jeden Sonntag zählte es zu ihren Aufgaben, Semmeln zu holen. Wenn die Tochter der Bäckermeisterin Reindl im Laden war, tauschte sie mit ihr Liebste Besitze. Auch Mina trieb sich manchmal im abgebrannten Haus herum, jagte Ratten und stopfte sich die Hosentaschen mit herumliegendem Kram voll. In ihrer Gegenwart schüttelte Anni nur selten den Kopf, denn Mina behandelte sie seit dem Feuer nicht anders als zuvor, wie viele Klöbles.
Alle anderen Segendorfer hatten sich verändert. Egal, wem sie begegnete, sogar Leute, die sie gar nicht kannte, grüßten sie, fragten, wie es ihr ginge, lobten ihr neues Zuhause, luden sie auf ein Stück Mohnstreifen ein oder steckten ihr einen Apfel zu.
Einmal fielen ihr beim Tauschen Minas gewichste Stiefel auf, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu berühren.
»Magst du sie?«, fragte Mina. »Du kannst mein Bein auch umarmen. Das Leder ist vom Jäger Josfer.«
»Wo hast du die gefunden?«
»Die gehören mir.«
»Was willst du dafür haben?« Anni breitete einige ihrer Liebsten Besitze vor sich aus. »Du kannst dir nehmen, was du willst.«
»Was ich will?« Minas Augen funkelten, sie beugte sich vor, biss sich auf die Unterlippe und streckte eine Hand nach dem Weidemesser aus – da zuckte sie zurück, verschränkte die Arme. »Nein. Das sind meine Lieblingsstiefel.«
»Bitte, lass uns tauschen.«
»Nein.«
»Ich verrat dir auch etwas.«
»Was denn?«
»Mein Geheimnis.«
»Dasselbe wie der Bauer Egler? Dann will ich’s nicht wissen.«
»Nein. Ein richtiges Geheimnis.«
»Vielleicht kenn ich es schon. Du musst es mir erst sagen.« Eben war Minas Haar noch grau gewesen, jetzt schimmerte es blond, als schiene die Sonne darauf.
»Du darfst es aber niemandem verraten«, flüsterte Anni und warf einen Blick zum Eingang, um sicherzugehen, dass sie allein waren, »niemandem!«
Mina nickte eifrig.
Anni hielt sich eine Hand vor die Lippen und beugte sich vor: »Manchmal wache ich auf. Spät nachts. Und dann hab ich das Gefühl, dass …«
»Was?«
»Dass Julius an mich denkt.«
»Der Julius Habom!«
»Das kann nicht sein, sage ich dann laut zu mir, er ist ja –«
»Anni!«, fiel ihr die Bäckermeisterin Reindl ins Wort und schob ihren schlanken, langen Körper zwischen sie und ihre Tochter. »Deine Semmeln werden kalt.«
Anni nickte, packte wortlos ihre Sachen zusammen und machte sich auf den Weg. Wieder bei den Jemands, legte sie die Semmeln in den Brotkorb, bedeckte sie mit einem Küchentuch, ging auf ihr Zimmer, drückte das Gesicht ins Kopfkissen und schrie: »Er ist verbrannt, er ist verbrannt, er ist verbrannt!« Danach fühlte sie sich etwas besser, wusch sich und ging die Kühe melken,
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