Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
nicht
unangenehmer Geruch eingenistet hatte, so lang wurden, dass die bleiche Haut kaum mehr durchschimmerte, wurden sie von ihr gestutzt. Geruch, stellte sie fest, war vor allem dort stärker, wo er sich verstecken konnte: im Haar, unter den Armen, Fuß- und Fingernägeln, zwischen den Beinen, in Hautfalten und Hautritzen. So hartnäckig er sich auch wehrte, Anni spürte ihn auf und vertrieb ihn mithilfe von Scheren, feuchten Tüchern, ihrem Kamm und dem ersten Ohrstäbchen in Segendorf: ein Zahnstocher, mit dem sie Palmkätzchen aufgespießt hatte.
Bloß eine Stelle tief in ihrem Innersten konnte sie nicht erreichen. Von dort stammten die widerlichsten Gerüche. An jenem Ort, sagte sie sich, goren all die schlechten Erinnerungen und Erfahrungen und produzierten Ausdünstungen, die schlechte Menschen wie Markus anlockten.
Essen half. Äpfel allein verstärkten nur üble Gerüche, aber eine Scheibe Brot, großzügig bestrichen mit Butter, bannte sie für ein paar Stunden. Kartoffeln waren besonders wirksam, ebenso Mohnstreifen. Kein Jemand schüttelte den Kopf, wenn sie ihren leer gegessenen Teller für eine zweite, eine dritte oder vierte Portion in die Küche brachte. Rotbackig und schmatzend löffelte Anni Kesselfleisch, Semmelauflauf, Kaiserschmarrn, Pichelsteiner, verschlang Leberknödel und Leberkäse. Das schmeckte würzig und süß, weich und schwer und richtig. Es knackte, platzte, gluckerte beim Kauen, floss über ihre Zunge, hing in ihren Zähnen, sie schlang, schluckte, spürte, wie es ihren Hals nach unten rutschte, sich in ihrem Magen verteilte und sie mit Wärme ausfüllte.
Anni und die Wünsche
Mit jedem neuen Morgen, mit jedem abgeschnittenen Haar, mit jedem Kopfschütteln, mit jedem Sonnenstrahl auf ihrer Haut und jedem Eiskristall an ihrem Fenster ein heimlicher Wunsch …
Mama, Papa, Julius leben
Stinken nicht riechen können
Nie auf die Latrine müssen, aber essen
Immer duftende Luft, im ganzen Haus, auch im Kuhstall
Groß sein ohne Wachsen
Ein Kochbuch zu Weihnachten wie das von früher mit den Bildern
Oder einen Ziegelstein für das Bett, der die ganze Nacht warm bleibt
Den neugierigen Jungen die Augen klauen
Den neugierigen Männern die Hände
Dem Bauern Egler beides
Eine Überraschung
Im Bett von Mama und Papa aufwachen mit Mama und Papa
Machen, dass jemand meine Wünsche lesen könnte, wenn ich sie aufschreiben würde (am besten ein Zauberer, der mich mag)
Die Klöble Mina schenkt mir ihre Lederstiefel
Schnee warm machen
Und Eis nicht glatt, sondern wie Schnee
Und dass Haare nach dem Schneiden nicht mehr wachsen
Und meine Augen so grün wie ein Kleeblatt
Und das Opferfest zum Geschenkfest
Und dass Mama und Papa und Julius mich jetzt hören
Und dass ich Mama und Papa und Julius sehen kann, in echt
Oder dass ich bei Mama und Papa und Julius bin, weil ich beim Opferfest nicht draußen war
Fliegen
Anni und der Wechsling
Weiß stach ihr in die Augen. Anni lief über eine schneebedeckte Wiese auf den Moorsee zu, bei jedem Schritt versank sie bis zu den Knien im Schnee, kalter Gegenwind streifte ihre Wangen und zerrte an ihrem Mantel. Als sie den Holzsteg erreichte, von dem sie früher an heißen Sommertagen Hand in Hand mit mir ins Wasser gesprungen war, schloss sie die Augen, hielt die Luft an. Übrig blieb nur ihr Herzschlag. Außer meiner Schwester nahm niemand die einstündige Wanderung zum Moorsee im Winter auf sich. So oft wie möglich kam sie her, um allein zu sein. Es war ein Ort des Nichts: keine Gerüche, keine Geräusche.
Vorsichtig ließ sie sich vom Holzsteg auf die gefrorene Oberfläche hinab, wich Stellen aus, an denen sich Risse durch das Eis zogen, und rutschte auf allen vieren bis zur Mitte des Sees, wo sie Schnee und Frost beiseitewischte und ihr Spiegelbild betrachtete. Dunkel glänzende Locken wuchsen unter ihrer Strickmütze hervor, ihr dreizehnjähriges Gesicht war voll und rund; seitdem sie wieder mit Genuss aß, hatten sich ihre Grübchen verdoppelt.
Unter dem Eis bewegte sich etwas. Anni stieß einen hohen Schrei aus, schüttelte den Kopf, hauchte ihr Spiegelbild an, polierte es mit dem Ärmel und ging so nah heran, dass ihre Nasenspitze das Eis berührte – nichts zu erkennen. Der See war so schwarz, als flüchtete die Nacht tagsüber ins Wasser.
Bei ihrem letzten Ausflug vor ein paar Tagen war sie geblieben, bis sie ihre Hände und Füße nicht mehr hatte spüren können, und als sie aufgestanden war, um den Heimweg
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