Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)
anzutreten, hatte sie einen roten Punkt entdeckt, ein winziger Farbklecks im Schnee, der markierte, wo sie gesessen hatte. Sofort hatte sie ihren Rock und ihre Strümpfe untersucht, die Fährte bis zu ihrem Schlüpfer zurückverfolgt. »Erfriere ich?« war ihr erster Gedanke gewesen, »Komm ich dann in den Himmel?« ihr zweiter; der dritte, vierte und fünfte: »zu Mama, Papa und Julius?« Abgesehen von einem leichten Schwindelgefühl hatte sie Segendorf allerdings unversehrt erreicht, sich und ihre Kleidung gründlich gewaschen. Und geschwiegen. Doch einem Jemand waren die Spuren in ihrer Unterwäsche aufgefallen. »Sterbe ich jetzt?«, hatte Anni neugierig gefragt. Diesmal war es der Jemand gewesen, der den Kopf geschüttelt hatte: »Du bekommst nur das Fleisch und das Blut einer Frau.«
Seither benötigte sie für ihre Körperhygiene noch mehr Zeit. Sobald sich eine Gelegenheit bot, beim Melken der Kühe, nachts oder auf der Latrine, überprüfte sie, ob es wieder passiert war. Dieses sonderbare Blut, wie stockend es floss, sein rostroter Ton und der stechende Geruch.
»Ich werde jetzt eine Frau«, verkündete Anni stolz ihrem Spiegelbild im Eis.
»Sterben«, antwortete es, »geht immer noch.«
Eine Weile rutschte sie auf dem Eis herum und wollte sich
gerade von ihrem Spiegelbild verabschieden, da sah sie am gegenüberliegenden Ufer, wie ein Tier aus einem Loch im Eis stieg. Es ging auf zwei Beinen, hatte zwei Arme, die meisten Haare am Kopf, und sonst war es, soweit sie das aus der Entfernung erkennen konnte, nackt. Das musste ein Tier sein. Kein Mensch konnte diese Kälte ertragen, nicht ohne Kleidung.
Es verschwand hinter einem Vorhang aus dunkelgrünen Tannenzweigen. So schnell sie konnte, schlitterte Anni in Richtung Holzsteg, ignorierte das leise Knacksen unter sich und lief, sobald sie das Ufer erreicht hatte, zurück zum Dorf. Mina hatte ihren Vater an einen tollwütigen Fuchs verloren und der Schreiner Huber war einmal, am helllichten Tag, von einem Wolf angefallen worden. (Seine merkwürdige Sitzhaltung kam daher, dass er stets auf seiner verbliebenen linken Pobacke balancieren musste.) Anni rannte. Aber das schien ihr viel zu langsam für ein Tier, das sie wittern, ihr nachjagen und Reißzähne in ihr Fleisch graben konnte – sie rannterannterannte. Ihr Herz gab den Takt vor, ihre Knie brannten, ihre Füße taten weh, der Wind drückte Tränen aus ihren Augen und pumpte kalte Luft durch ihren Körper. Als Anni das Haus der Jemands erreichte, schlug sie die Tür hinter sich zu. Das Knarren klang nicht bedrückend wie sonst – es war das beste aller Geräusche auf der ganzen Welt. Sie sank zu Boden und weinte in ihre Hände und wusste nicht, warum. Niemals dorthin zurückkehren, schwor sie sich. Nie mehr das Dorf verlassen.
Gleich am nächsten Morgen brach sie wieder auf. Sie folgte ihren Fußabdrücken. Die Nacht hatte sie in den Schnee gefroren. Am Moorsee setzte sich Anni ans Ende des Holzstegs, ließ die Beine baumeln und wartete. Immer behielt sie das
Loch auf der anderen Uferseite im Blick, aus dem das Tier gestiegen war. Bald bewegte sich etwas im Gebüsch und Anni versteckte sich unter dem Holzsteg – nur ein Hirsch, der aus dem Loch im Eis trank, bevor er zurück ins Dickicht flüchtete. Anni seufzte. Die Sonne schien ihr auf die linke Wange, sie schien ihr auf die Mütze und, für kurze Zeit, als ihr etwas zu warm wurde, auf das Haar, und schließlich schien sie ihr auf die rechte Wange. Nichts rührte sich. Ihre mitgebrachte Brotzeit hatte sie längst verzehrt, sie lutschte an einem Eiszapfen, den sie vom Holzsteg abgebrochen hatte. Als die Sonne sich lilablass färbte, stapfte sie los, mit hängenden Schultern. Kurz bevor sie die erste Wegbiegung erreichte, drehte sie sich dem Moorsee zu und rief: »Du blödes Schlammnest!«
Unter dem Dach der Jemands waren solche Ausdrücke verboten. Obwohl es, glaubte man der Bäckermeisterin Reindl, der perfekte Name für Segendorf war. Die Tannen auf der anderen Uferseite antworteten: »Est-est-est!« Im selben Moment erschien das Tier im Loch und drehte sich zu ihr um. Anni ließ sich auf den Bauch fallen, spähte über eine Schneewehe hinweg: Das Tier stand bis zur Brust im Wasser, es suchte das gegenüberliegende Ufer ab. Dann zog es sich in den Wald zurück. Anni sprang auf und rannte los, das Ufer entlang, wich Zweigen aus, sprang über Wurzeln und verlor dabei nie die Stelle aus den Augen, an der das Tier den Wald betreten
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