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Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition)

Titel: Meistens alles sehr schnell: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Kloeble
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hatte. Dort angekommen, hörte sie einen Ast brechen, folgte dem Geräusch möglichst lautlos, drang tiefer in den Wald vor, tastete sich im Halbdunkel von Stamm zu Stamm, schürfte sich an der Rinde die Hände auf, schlich langsamer, hielt inne, lauschte: das zaghafte Stöhnen der Bäume, darunter Herzpochen. Anni rang nach Luft, hustete, strauchelte, fiel über eine junge Tanne. Es rieselte Nadeln. Die
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letzten Sonnenstrahlen verfingen sich in den Baumwipfeln hoch über ihr, darunter wuchsen die Schatten. Wäre unser Vater da gewesen, hätte sie sich nur an seiner rauen Hand festhalten müssen, um nach Hause zu finden, ihn hatte der Wald jeden Morgen verschluckt und jeden Abend, oft mit Beute, wieder ausgespuckt. Anni stand auf und setzte ihre Mütze zurecht. »Ich kenne mich hier aus«, sagte sie laut zu sich. »ICH KENNE MICH HIER GUT AUS!«
    »Aus-aus-aus!«, spotteten die Tannen.
    Hinter einem Baum, keine fünf Schritt vor ihr, trat das Tier hervor, es war nicht mehr nackt, sondern trug Hose und Hemd und Mantel wie ein Mensch, nickte und sprach sogar wie einer: »Sie finden allein nach Hause?«
    Das Tier war ganz schön viel Mensch, fand Anni und schüttelte den Kopf, wie in Trance. Sie folgerte, dass dieser Mann ein Wechsling sein musste. Meine Schwester war schon immer die Leichtgläubigere von uns beiden gewesen. Es hieß, Wechslinge seien Meister der Verwandlung. Sie konnten jede beliebige Form annehmen, ob Fisch, Tanne oder Mensch.
    »Haben Sie sich verletzt?«, fragte er und deutete auf ihre Hände.
    Sie biss sich auf die Zunge, um das Kopfschütteln zu stoppen. Zu allen Seiten versperrte ihr die Dunkelheit den Weg. In ihrem Kopf krakeelte ein Chor aus Kinderstimmen den Moorreim.
     
    Wagst dich nachts weit raus, du Tor,
    denkst, du bist ein tapfres Kind,
    schluckt dich schmatzend unser Moor,
    vergessen hat man dich geschwind.
     
     
    »Brauchen Sie einen Verband?« Der Wechsling kam näher. »Entschuldigung, ich frage zu viel.« Seine helle Stimme klang freundlich und ergeben, jedes Wort artikulierte er präzise, was bewies, dass er zweifellos nicht von hier war. »Sie sollten besser nach Hause gehen.« Seine Körperhaltung war ein wenig gekrümmt, als deute er eine Verbeugung an; wäre sie ihm unter anderen Umständen begegnet, sie hätte ihn für eine Art Diener gehalten. »Es wird dunkel.« Ehe sich Anni versah, stand er direkt vor ihr, sie konnte winzige Wassertropfen ausmachen, die in seinem graubraunen Vollbart hingen. Er sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?«, schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, lächelte. »Schon wieder!« Ein hübsches Lächeln.
    Da berührte er eine ihrer Locken. »Sie riechen gut.« Mit einem Mal klang seine Stimme heiser und seine Nüstern blähten sich und die Brustmuskeln traten hervor.
    Er hatte sich in Markus verwandelt.
    Anni wich zurück, sog die feuchten Düfte des Waldes ein, prallte mit dem Rücken gegen einen Baumstamm. »Was willst du?«
    Keine Antwort.
    Ein neuer, beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Der Wechsling blinzelte sie an, sein Mund klappte auf und zu, auf und zu. Wie eine dumme Puppe. In ihrem Kopf waren so viele Wörter, und jetzt drängten alle auf einmal nach draußen, Anni krallte ihre Hände in die Baumrinde und es tat weh, das war ein gutes Gefühl, immer tiefer trieb sie ihre Finger in das Holz, und dann, mit dem ersten Schrei, folgten die Worte. Das Echo des Waldes konnte kaum mithalten, in alle Richtungen sprangen sie davon und schwirrten umher, eins fraß das nächste fraß das nächste, und so dunkel die Nacht war,
so vollgestopft war sie mit Annis Worten. »Willst du mich tot machen? Willst du das? Dann mach ruhig! Für mich ist das nicht schlimm! Ich bin dann im Himmel! Da will ich sowieso bald hin! Da sind nämlich Mama und Papa und Julius! Die warten da! Die wollen, dass ich auch zu ihnen komm! Weil sie mich lieb haben! Die lieben mich! Die freuen sich, wenn ich tot bin! Dann sind wir wieder zusammen!«
    Der Wechsling ohrfeigte sie.
    Anni holte aus, ohrfeigte ihn zurück.
    Stumm sahen sie sich an. Der Schrei einer Eule über ihnen, Schatten krochen, irgendwo plumpste Schnee von einem Ast. Seine Hand lag immer noch auf ihrer Wange, ihre Hand immer noch auf seinem Bart, der sich gar nicht kratzig anfühlte, sondern weich. Sie sagte: »Ich bin Anni«, und der Wechsling sprach, so zärtlich wie niemand zuvor: »Anni.« Worauf er sich vorstellte und Annis Zunge sprang, rollte, sich wölbte: »Arkadiusz Kamil

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