Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
vergrub die Faust in seinem rauhen Fell. »Wir müssen los.«
Die orangefarbenen Augen des Geisterhundes öffneten sich ein kleines bisschen, und er bewegte sich leicht. »Gin.« Sie schüttelte ihn und blinzelte gegen die Tränen an. »Komm schon, Promenadenmischung. Wir müssen hier …«
»Ihr wollt uns schon verlassen?«
Nie hatte sie Renauds Stimme mehr gehasst als in diesem Moment. Langsam drehte sie sich um und drückte ihren Rücken an Gins Schulter. Auf der anderen Seite des Thronsaals wartete immer noch der Pfeiler auf dem Podium. Aber – sie blinzelte ins dämmrige Licht – er sah jetzt anders aus. Alle schwarzen, verrotteten Teile waren verschwunden, und statt wie vorher grau war die Oberfläche des Pfeilers jetzt so weiß und zerbrechlich wie verkrusteter Schnee.
Eine Druckwelle breitete sich vom Podium her aus, und der gesamte Raum fing an zu zittern. Lange Risse spalteten knisternd die schneeweiße Oberfläche des Pfeilers, und je weiter sie sich ausbreiteten, desto heftiger erbebte die Burg in ihren Grundfesten. Weißer Staub rieselte herab, als große Sprünge in den Marmorbögen entstanden, welche die Decke hielten. Haarrisse in den Wänden wanderten wie Staub blutende Adern vom Boden zur Decke, als die Steingeister, die durch die mehrfache Versklavung und die Dämonenbrut bereits tief traumatisiert waren, den Halt an ihrem Element verloren. Unter Mirandas Augen lösten sich ganze Teile der Wand, und die Glasfenster zersprangen, als das Gewicht der Decke sich verlagerte.
Dann, so schnell wie es begonnen hatte, hörte das Zittern auf. Es wurde totenstill, als hielte die gesamte Welt den Atem an und wartete.
Und in der Stille öffnete sich der Pfeiler.
Kapitel 25
G regorns Pfeiler teilte sich sehr sauber. Das Salz fiel in zwei ordentlichen Hälften zur Seite und löste sich in feine Kristalle auf, die wie nasser Schnee auf den Marmor rieselten. Wo immer das Salz sich auflöste, blieb stattdessen ein wässriges Licht zurück, ruhig und blau, als würde man vom Grund eines Sees aus die Mittagssonne betrachten. Im Herzen des Lichts stand Renaud, so dass er einen langen, tanzenden Schatten auf den zerstörten Steinboden warf.
Er stand in der Mitte des Podiums, und während das letzte Salz von ihm abfiel, bildete sich um seine Schultern ein strahlender Wasserfall, der sich an ihn schmiegte wie der Pelz eines mystischen Monsters. Er brauste über seine Schultern und seinen Rücken hinunter, um dort, kurz bevor er den Boden berührte, auf die Wand von Renauds offenem Geist zu treffen und sich in der Luft zu drehen. Der eigene Schwung zwang das Wasser, wieder an seiner Brust empor und über die Schultern zu fließen, wo der Kreislauf von vorne begann – ein endloser Strom aus rasendem Wasser. Aber egal, wie sehr es sich wand und schäumte, sein Fluss wurde durch die Grenzen der Versklavung eingeschränkt. Renauds Kontrolle war unbeugsam, und das Wasser konnte sich nicht einmal weit genug daraus befreien, um seine Kleider zu benässen. Sie waren trotz der tosenden Flut vollkommen trocken.
Renaud streckte die Hand aus, und das Wasser folgte seinen Bewegungen. Es floss seinen Arm entlang und formte eine lange, dünne Nadel an seinen Fingerspitzen, die Renaud dann auf Mirandas Kopf richtete.
»Das ist schon der zweite König von Mellinor, den eure kleine Gruppe ermordet hat«, sagte er. »Ganz zu schweigen von der Zerstörung unseres Thronsaals. Ich denke, jetzt kann sich niemand mehr gegen eine Hinrichtung aussprechen.«
»Der einzige Mörder hier bist du, Renaud«, zischte Miranda und vergrub ihre Hände tiefer in Gins Fell. »Gib diesen Geist frei!«
Renaud lachte nur, und das Wasser, das um seine Schultern rauschte, schäumte noch schneller. »Ich glaube nicht, dass du das wirklich willst. Ich verstehe jetzt, warum Gregorn bereit war zu sterben, um diesen Geist zu behalten. Er ist noch nicht einmal richtig aufgewacht, und sieh dir an, was er alles kann.«
Renaud schwang seinen Arm. Die Wassernadel flog in einem Bogen davon und schlug wie eine Kanonenkugel in der Wand ein. Die Steine explodierten und segelten in die Nacht davon. Wind brauste durch den Raum, und Miranda duckte sich, als eine Schuttwolke in ihre Richtung flog. Als Renaud seine Hand wieder zurückzog, war die gesamte nordwestliche Ecke des Thronsaals verschwunden, und wo vorher Wand gewesen war, blieb nur ein klaffendes Loch zurück.
Die Steine im Dach kreischten, aber ohne ihre Eckstütze verloren sie ihren Kampf gegen die
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