Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
Tasche ihres Geistes, selbst jene, von denen sie bis zu diesem Moment nicht einmal etwas gewusst hatte. Der Meergeist füllte den Brunnen ihrer Seele bis zum Überlaufen, und immer noch floss das Wasser. Die Stärke des Geistes schien endlos zu sein, und sie erkannte, wie lächerlich es gewesen war, gegen ihn zu kämpfen, und wie viel er bei seinen Angriffen zurückgehalten hatte. Eine Welle des Bedauerns glitt durch das Wasser, und instinktiv vergab sie ihm alles. Alles, was sie beide falsch gemacht hatten, war jetzt eins, ein großes Meer aus Ängsten und Bedauern, das drohte, sie zu überwältigen. Doch Mellinors Beschwichtigungen hoben ihre Stimmung wieder, und sie verstand, dass er mindestens so sehr Teil davon war wie sie. Sie waren jetzt Pferd und Reiter, Diener und Herr, Geist und Mensch. Vollkommen unterschiedlich, und doch gleich.
Als sie schließlich wieder die Augen öffnete, lag sie auf dem Rücken, ohne zu wissen, wie sie dort hingekommen war. Jedes Gelenk ihres Körpers schmerzte, und doch schien all das weit entfernt. Die Zeit bewegte sich in Sprüngen. Inzwischen hätte der Tag angebrochen sein müssen, und doch war der Thronsaal dunkler als vorher. Sie fühlte Druck an den Schultern und rollte mühsam den Kopf herum. Eli stand über ihr. Seine Miene war verschlossen und nachdenklich. Er hatte seine Arme unter ihre geschoben und schleifte sie über den Boden. Miranda fragte sich, wo er sie hinbrachte, aber dann wurde ihre Aufmerksamkeit von dem wundervollen Geräusch abgelenkt, das die Luft erfüllte.
»Was ist das?«, flüsterte sie, oder glaubte sie zu flüstern. Sie war sich nicht sicher. Sie wusste noch nicht genau, wo sie aufhörte und Mellinor begann. Aber Eli schien sie zu verstehen.
»Regen«, sagte er und legte sie neben Gin ab. »Nicht einmal dein Bauch konnte all dieses Wasser halten, also habe ich den Rest nach draußen geschickt, um sich abzuregnen.«
Sie nickte matt. Das schien vernünftig zu sein. »Wo gehst du jetzt hin?«
»Es würde keinen Spaß mehr machen, wenn ich dir das sage.« Eli lächelte. Er griff in seine Jacke und zog ein weißes Rechteck heraus, das er in Mirandas Rocktasche schob. »Schlaf schön, kleine Spiritistin«, sagte er und stand mit einem Zwinkern auf. »Ich bin sicher, wir treffen uns wieder.«
Miranda nickte friedlich und schloss die Augen. Innerhalb von Sekunden hörte sie nur noch das wunderbare Geräusch des Regens, und mühelos glitt sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Kapitel 28
M iranda wachte langsam auf. Ihr Geist erhob sich wie eine Luftblase aus den Tiefen ihres Schlafes. Mellinor schlief noch tief in ihr, und seine Strömungen trieben ruhig auf dem Grund ihres Bewusstseins. Sie ließ ihn in Ruhe und glitt langsam nach oben, während ihre Gedanken kamen und gingen. Alles um sie herum fühlte sich wunderbar an – als schwebte sie auf einer warmen, nach Lavendel duftenden Wolke, während jemand in der Ferne Musik spielte. Dann verzog sie das Gesicht. Falsche Musik spielte. Unglaublich falsch. Ihre Gedanken näherten sich langsam dem wachen Bewusstsein und ordneten sich, während sich Sorge in ihr ausbreitete. Plötzlich fühlte sie sich gar nicht mehr so fantastisch. Für einen Moment verweilte sie noch nervös am Rande des Schlafes. Letztendlich entschied sie, dass sie genauso gut ganz aufwachen konnte, wenn sie bereits wach genug war, um darüber nachzudenken, ob sie nun aufwachen sollte oder nicht. Zumindest konnte sie dann dafür sorgen, dass diese schreckliche Musik aufhörte.
Sie öffnete die Augen und fand sich unter einem riesigen Federbett wieder. Am Fuß des Bettes döste in einem Stuhl eine ältliche Dienerin, und ihr leises Schnarchen bewegte die Staubpartikel, die in dem honigfarbenen Licht tanzten, das durch die hohen Fenster fiel. Die schreckliche Musik stieg hinter einem großen Paravent auf, der den sowieso nicht besonders großen Raum in zwei Hälften teilte. Miranda bewegte sich vorsichtig, und dann zuckte sie zusammen, als etwas Schweres über ihre Brust rutschte. Mit Mühe befreite sie eine ihrer Hände aus der festgesteckten Decke und ließ sie ungeschickt über den Stoff gleiten. Nach ein paar unsicheren Versuchen schlossen sich ihre Finger um die weiche Ledertasche, die prall gefüllt war mit den schweren, vertrauten Formen ihrer Ringe. Unglaubliche Erleichterung breitete sich in ihr aus, und sie seufzte zufrieden. Bei diesem Geräusch sprang die schlafende Dienerin aus ihrem Stuhl auf.
»Herrin«, flötete sie
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