Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
das kleinste bisschen, wäre eine Menge wert.
Der Thronsaal war genauso voll wie der Flur davor, auch wenn die Menge besser angezogen war, und in der Luft lag dieselbe aufgeregte Spannung. Miranda hatte sich gerade auf die Zehenspitzen gestellt und nach dem Gerichtsmeister oder irgendwem anderen Ausschau gehalten, der ihr helfen konnte, als sie das schabende Geräusch von Stahl auf Stein hörte. Es musste ein Signal gewesen sein, denn auf einmal verstummte die Menge. Alle Aufmerksamkeit war nun auf die große, schlanke Gestalt gerichtet, welche die Stufen zum Podium erklomm. Als der Mann nur noch einen Schritt vom leeren Thron entfernt war, hielt er an und drehte sich zur Menge um. Miranda stockte der Atem, als sein Gesicht sichtbar wurde.
Sie war sich nicht sicher, was sie nach Marions Geschichte erwartet hatte. Einen verbitterten, von Strapazen gezeichneten Verbannten vielleicht, oder einen selbstgefälligen, verzogenen Prinzen, der im Triumph seiner Rückkehr schwelgte. Was auch immer sie erwartet hatte, der Mann auf dem Podium war es nicht. Er war jedoch zweifellos ein Prinz. Groß und gut gekleidet in einem dunkelblauen Mantel, strahlte er das Selbstbewusstsein eines Menschen aus, der daran gewöhnt war, dass man ihm gehorchte. Lange blonde Haare fielen ihm bis auf den Rücken und bewegten sich sanft, als er sich vor der Menge verbeugte. Sein fein geschnittenes Gesicht war in seiner Schönheit fast feminin, und Miranda schluckte gegen ihren Willen. Er sah jedenfalls nicht aus wie jemand, der die letzten zehn Jahre im Exil in der Wüste verbracht hatte.
Der goldene Prinz sah über das Meer aus Leuten hinweg und trug dabei eine gleichermaßen bescheidene wie wohlwollende Miene zur Schau. Er hob die Hand zu einer Willkommensgeste. Miranda konnte fast fühlen, wie die Menge sich vorbeugte, als er anfing zu sprechen.
»Bürger von Mellinor!« Seine Stimme hallte über die hingerissene Menge hinweg. »Ich stehe vor euch als Verbannter und als Verbrecher. Viele haben mich gefragt, wie ich in Anbetracht dieser Tatsachen vor euch treten konnte, und so muss ich als Erstes vor euch allen gestehen: Vor elf Jahren wurde ich entsprechend der alten Gesetze verbannt, weil ich als Magier geboren wurde. Doch trotz dieser Gesetze und aufgrund der tiefen Liebe, die ich für dieses Land empfinde, habe ich mich in den letzten acht Jahren den Befehlen meines Vaters widersetzt und unter euch gelebt. Mellinor zuliebe habe ich als Namenloser gelebt, ein Armer zwischen Armen. Ich war vor vier Jahren hier, als mein jüngerer Bruder Henrith den Thron bestieg, und ich habe ihm zusammen mit euch auf der Straße zugejubelt, ohne Eifersucht oder Groll. Bis gestern war ich zufrieden damit, ohne die Verpflichtung zu leben, für die ich geboren wurde, und in Verleugnung des Fluches, der mich die Krone gekostet hat – denn nur so konnte ich hier leben, in meiner Heimat. Aber gestern, als ich von dem schrecklichen Verbrechen hörte, das begangen worden ist – nicht nur gegen den Thron von Mellinor, sondern gegen mein eigen Fleisch und Blut –, konnte ich nicht länger stillhalten.«
Renaud beugte sich vor, und in seiner Stimme klang Verachtung mit, als er fortfuhr: »Ihr habt inzwischen gehört, dass der Magierdieb Monpress, der in allen Ratskönigreichen für eine Liste von Verbrechen gesucht wird, die hier vorzutragen zu lange dauern würde, unseren König entführt hat. Dieses Verbrechen darf nicht ungesühnt bleiben.«
Prompt erhob sich großes Geschrei, und Renaud lehnte sich förmlich hinein und ließ es immer stärker anschwellen. Als der Aufruhr seinen Höhepunkt erreicht hatte, breitete Renaud energisch die Arme aus, und es trat wieder Schweigen ein.
Als er erneut sprach, war seine Stimme voller Trauer: »Meine Freunde, ich trete ohne Erwartungen vor euch, ohne Forderungen. Ich möchte euch nur meine Dienste anbieten. Es war meine Magie, die diese Bürde auf die Schultern meines jüngeren Bruders gelegt hat. Lasst es meine Magie sein, die ihn wieder davon befreit. Ich war einst euer Prinz, und heute bitte ich euch, lasst zu, dass ich mich diesem Verbrecher entgegenstelle und dabei helfe, meinen Bruder zu retten. Er ist die einzige Familie, die mir noch geblieben ist. Lasst mich ihm dienen, wie ich euch nicht dienen konnte, und ich schwöre euch, ich schwöre bei meinem Leben, dass Mellinor seinen König zurückbekommen wird!«
Er riss die Fäuste über den Kopf, und die Menge brach in Begeisterungsstürme aus. Die Adeligen um
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