Meister der Stimmen: Roman (German Edition)
Miranda riss die Augen auf. Die Arme des Versklavers waren tief in dem Pfeiler vergraben. Nicht nur vergraben, sondern bis zum Ellbogen verschlungen. Wo sie auf seine Oberfläche trafen, zersetzte sich der Pfeiler, so dass ein schwarzes, klaffendes Loch entstand, das im Feuerschein glänzte wie eine entzündete Wunde. Noch während sie zusah, gab der Pfeiler ein leises, schmatzendes Geräusch von sich, und ein weiterer Zentimeter von Renauds Armen verschwand. Miranda schlug die Hand vor den Mund, um sich nicht zu übergeben.
»Wunderschön, oder?« Renaud seufzte und ließ seinen Blick liebevoll über die faulige Oberfläche des Pfeilers gleiten. »Gregorns größte Errungenschaft liegt direkt unter dieser Hülle. Und in diesem Moment sorgt Gregorns Erbe in meinem Blut dafür, dass sich die Barriere auflöst. Wenn das vollbracht ist, wird Gregorns Vermächtnis endlich mir gehören.«
»Du bist verrückt«, sagte Miranda, als sie sich wieder gefangen hatte. »Alles, was Gregorn als Magier erobert hat, ist vor langer Zeit mit ihm gestorben. Was für einen Schatz soll er dir hinterlassen haben?«
»Das Einzige, was etwas zählt«, sagte Renaud ruhig. »Einen Geist.«
»Unsinn«, spottete Miranda. »Keine Verbindung zwischen Mensch und Geist, nicht einmal eine Versklavung, bleibt über den Tod des Magiers hinaus bestehen.«
»Ah, aber weißt du«, sagte Renaud, während der Pfeiler wieder einen Zentimeter von ihm fraß. »Gregorn ist nicht tot.«
Nach dieser Ankündigung brauchte Miranda einen Moment, um ihre Stimme wiederzufinden. Glücklicherweise sprach Eli für sie beide.
»Was meinst du mit ›nicht tot‹? Es ist vierhundert Jahre her. Du spinnst doch, wenn du glaubst, dass irgendein Mensch so lange durchhalten kann.«
»Der menschliche Wille ist die stärkste Macht in dieser Welt«, erklärte Renaud. »Er kann jeden Geist überkommen, jede Naturgewalt, selbst die Zeit, wenn der Magier sich nur gut genug beherrschen kann. Gregorns Wille hat einen Geist überwältigt, der stark genug war, um Mellinor aus einem Binnenmeer aufsteigen zu lassen. Einen Geist, der so stark und so gefährlich war, dass alle Nationen drei Monate lang verängstigt vor Gregorns Füßen kauerten, bis die Anstrengung, diesen Geist zu beherrschen, schließlich seinen Körper zerstört hat.«
»Wie es auch sein sollte«, zischte Miranda. »Ich hoffe, der Geist hat …«
»Er hat seinen Körper zerstört.« Renaud fiel ihr ins Wort. »Nicht seinen Willen. Unsere Körper, unsere Hüllen, sind zerbrechlich. Sie altern und sterben, aber solange wir einen Willen haben, haben wir auch ein Leben. Gregorn hat das auf eine Art und Weise verstanden, wie dein Geisterhof, mit all seiner Selbstzensur im Namen eines zufälligen Gleichgewichts, es niemals könnte. Als sein Fleisch zu versagen begann, hat mein Vorfahr seine letzte Macht dafür eingesetzt, die einzige menschliche Seele zu versklaven, die ein Magier beherrschen kann – seine eigene.«
»Unmöglich«, erklärte Miranda grimmig. »Man kann sich selbst genauso wenig versklaven, wie man sich an den eigenen Schultern aus einem Loch ziehen kann.«
»Das ist die Blindheit deiner Disziplin«, höhnte Renaud. »Ihr Spiritisten verwerft so vieles vorschnell. Ihr sagt so schnell, dass dieses oder jenes unmöglich ist, und so seid ihr ebenso blind und taub wie jeder gewöhnliche Mensch, wenn das Unmögliche direkt vor eurer Nase geschieht.« Er musterte triumphierend den Pfeiler. »Gregorn hat sich selbst gemeistert und seinen eigenen sterbenden Körper in einen Pfeiler aus Salz verwandelt, um seinen Geist in dieser Welt zu binden. Er hat seinen Nachkommen nur einen Befehl hinterlassen: Sie sollten um ihn herum ein Königreich gründen und niemals andere Magier hineinlassen, damit ihre Geister das sensible Gleichgewicht seiner Kontrolle nicht stören können.«
Renaud lehnte sich zu dem feuchten schwarzen Schleim, der inzwischen mehr als die Hälfte der Pfeileroberfläche verschlungen hatte, und schmiegte sich an ihn wie ein Liebhaber. »Das ist der wahre Grund für den Magierbann von Mellinor«, flüsterte er. »Der Grund dafür, dass ich als Fremder in meinem eigenen Zuhause aufwachsen musste, dass ich verbannt wurde. Und es ist auch der Grund, warum ich zurückgekehrt bin. Alles in Mellinor ist zu diesem einen Zweck entstanden: um Gregorns Kontrolle zu schützen. Alles in diesem Königreich dient immer noch dem ersten König. Alles hier existiert, damit dieser Geist, der Königreiche
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