Meister Li und der Stein des Himmels
den
Rückweg. »Jedenfalls wissen wir mit Sicherheit, daß ihr der Stein weggenommen
wurde, ehe man ihr das Jadegewand anlegte. Und das bringt uns zu den Munteren
Mönchen zurück, die vermutlich lästerliche Gebete an ihrem Totenbett sprachen.
Wenn der Orden verborgen in diesem Labyrinth bis zum heutigen Tag besteht, dann
besitzen sie seit mehr als siebenhundertfünfzig Jahren alle drei Stücke des
Steins. Was in Buddhas Namen tun sie damit ?«
Auch das war eine Frage,
auf die wir keine Antwort wußten. Wir kehrten in den halbrunden Vorraum zurück.
Meister Li stellte das Gefäß wieder in die Hände der Statue, und die Tür schloß
sich. Die nächste Statue hatte den Schakalkopf. Meister Li erklärte, für die
alten Ägypter habe ein Schakal vielerlei Bedeutungen gehabt, aber die Symbolik
sei in diesem Fall vermutlich chinesisch, und wir sollten unseren Magen unter
Kontrolle halten. Er hob das Gefäß, und die zweite Tür ging auf. Als wir den
Raum betraten, verstanden wir seine Warnung. Mondkind und Klagende Morgendämmerung
mußten sich übergeben, und der Prinz und ich waren nahe daran.
Es handelte sich um ein
zweites medizinisches Forschungszentrum, aber es war noch schlimmer als die
Grotte. In der trockenen Luft hatten sich die Illustrationen der Experimente an
den Wänden besser gehalten, und es fiel schwerer denn je zu glauben, daß ein
Mensch anderen Menschen so etwas hatte antun können. Prinz Liu Pao starrte
fassungslos auf die Eisenkäfige mit den Skeletten von Bauern, die darauf
gewartet hatten, den Lachenden Prinzen zu unterhalten. Meister Li betrachtete
aufmerksam die Diagramme und Formeln der aufgezeichneten Experimente.
»Ch'i und Shih, die Kraft des
Lebens und die pulsierende Kraft der Bewegung, die das Universum beseelt«,
stellte er sachlich fest. »Er hat einen außergewöhnlichen Stein benutzt, um die
Energieströme des Lebens aufzuzeichnen, während es langsam aus den Körpern der
sterbenden Bauern wich. Ein Mensch, der den Fluß der Kraft beherrschte, würde
natürlich ein Gott werden, und wenn er außerdem die ideale Atmung anwandte, um
die Embrionische Perle hervorzubringen, wäre er unsterblich. Zeigt mir den
Drang nach persönlicher Unsterblichkeit, und ich zeige euch den Weg durch ein
Schlachthaus. Der Weihrauch persönlicher Vergötterung ist der Gestank von
Leichen. Ochse, wenn ich so tief sinke, daß ich mit Potenzmitteln und dem
Lebenselixier herumspiele, bringst du mich zum Auge der Ruhe und drückst mir
eine Angel und einen Topf mit Würmern in die Hand .« Er
ging wieder hinaus und schloß die Tür hinter uns. Kebech-Senuf mit dem
Falkenkopf bewachte die dritte Tür. Der Falke ist ein Jäger, und die Munteren
Mönche mußten hier ein- und ausgehen, um Bauern zu fangen. Meister Li sagte,
für den Fall, daß wir schnell verschwinden müßten, sei es sicher nicht schlecht
nachzusehen, ob es noch andere Ausgänge gebe. Die Tür glitt auf, und wir traten
in einen langen Gang mit vielen Abzweigungen.
Meister Li interessierte
sich nicht für die Seitengänge, sondern ging immer geradeaus, bis wir vor einer
Wand standen. Dann machte er kehrt, um einen Gang nach dem anderen zu erkunden.
Als wir uns umdrehten, übernahm Prinz Liu Pao die Führung und trat zuversichtlich
in die erste dunkle Öffnung. Er verschwand. »Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaahh...«
Der Entsetzensschrei drang
aus immer größerer Tiefe herauf und schien aus den Eingeweiden der Erde zu
kommen. Schließlich verstummte er. Die Stille war beängstigender als der Schrei.
Ich zwang mich zu einem
Schritt. Der Prinz hatte offenbar nicht auf seine Füße geachtet, denn direkt
hinter dem Eingang gähnte ein schwarzes Loch. Ich kniete nieder und warf meine
Fackel hinein. Sie fiel nicht senkrecht nach unten. Durch den massiven Felsen
wand sich ein Steinkamin, der so glatt und eben war wie gestampfter Schnee. Ich
dachte daran, wie der Prinz Klagende Morgendämmerung gepflegt hatte, und vor
meinen Augen leuchteten seine wunderbaren strahlenden Bilder. Ich setzte mich
und schwang die Beine über den Rand.
»Siehst du ihn ?« fragte Meister Li.
»Noch nicht. Aber das wird
sich ändern«, erwiderte ich grimmig.
Ich stieß mich ab, ehe mich
jemand daran hindern konnte. Mondkind schrie auf, und dann hörte ich nur noch
die Luft an meinen Ohren vorbeizischen, während die Geschwindigkeit zunahm. Auf
dem glatten Stein rutschte ich schneller als auf dem Eis am Eberkopfhügel
hinter meinem Dorf. Die Flamme der Fackel zog eine Leuchtspur
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