Meister Li und der Stein des Himmels
Umständen war es Aufgabe des Bogenschützen,
uns Rückendeckung zu geben. Deshalb ging sie rückwärts, ließ sich von Mondkind
führen und bewegte sich so sicher wie eine Bergziege. Ich trat auf die erste
Stufe, und wir machten uns an den Abstieg.
22.
Auf der Treppe lag Asche
von Fackeln, die neu sein mußte, und die Decke hatte Rußflecken. Die Stufen
waren glatt, gleichmäßig und hoch, und wir stiegen über vier Treppenabsätze in
die Tiefe. Die Luft war frisch, aber ziemlich feucht, und Mondkind sagte, er
höre Wasser fließen. Schließlich hörte ich es auch, und als wir die letzte
Stufe erreichten, beleuchtete das Fackellicht einen unterirdischen Fluß. Ich
mußte an die Geschichte von Wölf denken. Das Wasser wirkte pechschwarz, denn es
floß in einem schwarzen Felsbett. Am anderen Ufer ragte etwas Riesiges, Dunkles
auf. Ich bückte mich und hielt die Fackel so, daß das Licht über das Wasser
fiel und die steinerne Statue eines Mannes erhellte, der mir bekannt vorkam.
»Yen-wang-ye, der ehemalige
Erste Herr der Hölle«, sagte Meister Li mit normaler Stimme. »Wir müssen nicht
flüstern, die Fackeln haben unseren Besuch bereits angekündigt .« Er betrachtete nachdenklich die Statue. »Die Darstellung
eines Totenwächters weist darauf hin, daß die Höhle tatsächlich zum Grab des
Prinzen gehört, wie wir angenommen haben. Wenn man bedenkt, daß dieser Hund
beinahe das ganze Tal der Seufzer mit unterirdischen Gängen durchzogen hat,
kann man damit rechnen, daß er das größte Grabmal der Geschichte gebaut hat .«
Die Höhle hatte gewaltige
Ausmaße. Das Licht der Fackeln drang kaum bis zur Decke. Das Klappern unserer
Sandalen hallte in der Dunkelheit und kam als merkwürdig verzerrtes Echo
zurück, als dringe es durch ein ganzes Labyrinth. Meister Li ging
stromaufwärts; ich umklammerte mein Beil und beobachtete grimmig die Schatten.
Hinter uns tanzte der gespannte Bogen von Klagende Morgendämmerung auf und ab.
In Abständen von etwa
zweihundert Fuß standen weitere riesige Steinstatuen. Meister Li erkannte den
japanischen König der Toten mit dem seltsamen Namen Emma-hoo. Er murmelte etwas
davon, daß der Lachende Prinz Gottheiten aus jeder erdenklichen Kultur hier
versammelt habe. Viele der Gestalten kannte Meister Li nicht, aber er verneigte
sich tief vor einem starken jungen Helden, der einen gefangenen Löwen hielt,
und beim Weitergehen intonierte er leise. Die Worte verstand ich nur zum Teil.
»Im Haus aus Staub
Leben Herr und Prophet,
Zauberer und Priester,
Und Gilgamesch, den die
Götter
Im Tod gesalbt.
Groß war sein Ruhm,
Groß war sein Stolz
Staub ist seine Nahrung
Und seine Speise ist
Schlamm .«
»Klingt nicht sehr
heroisch«, murmelte ich. »Mein lieber Junge, im Vergleich zur Geschichte von
Gilgamesch sind unsere Heldenepen wie das Gekritzel schwachsinniger Kinder«,
erwiderte Meister Li streng. Ich war nicht in der Lage, ihm zu widersprechen.
Die nächsten Statuen waren ägyptische Götter der Unterwelt, und es gab
erstaunlich viele. Ich kippte beinahe aus den Sandalen, als im Fackellicht eine
riesige drohende Mumie mit einem gräßlichen Wesen auf den Armen auftauchte.
Meister Li erklärte mir, es sei kein Abbild des Lachenden Prinzen, sondern
stelle Osiris und das Ungeheuer Amenaith dar. Er identifizierte einen Gott mit
einem Schakalkopf als Anubis und eine Frau mit einer Feder als Amenaith, aber
er schien etwas anderes zu suchen. Schließlich blieb er stehen und deutete
geradeaus.
»Toth«, sagte er. »Klagende
Morgendämmerung, im Fieber hast du gerufen: Da ist die Ibisstatue, und
hier ist sie. Wir suchen übrigens auch eine Statue mit dem Kopf eines Raben .«
Man hörte nur das
Plätschern des Wassers, das Klappern der Sandalen und das Zischen der Fackeln.
Die dunkle Leere schien endlos zu sein. Der kalte Hauch der Ewigkeit bedrückte
mich, und ich umklammerte mein Beil fester. Eine Statue nach der anderen
bewachte geheimnisvoll, monströs und bis in alle Ewigkeit die Mumie eines
lachenden Wahnsinnigen, dessen Grab leer war. Es hätte mich nicht überrascht,
todbringende Schreie zu hören und sieben schwarze Fledermäuse durch die Luft
flattern zu sehen.
Meister Li brummte
zufrieden. Mondkinds Fackel beleuchtete eine Statue am anderen Ufer. Es
handelte sich um eine Frau mit dem Kopf eines Raben. »Ich weiß nicht, was sie
darstellt«, meinte Meister Li, »aber Klagende Morgendämmerung hat gesagt:
Da, der Rabe und der Fluß, und kurz davor sagte sie: Da, die
Weitere Kostenlose Bücher