Meister Li und der Stein des Himmels
Ziegenstatue . Wir dürfen annehmen, daß sie gerade den Fluß gesehen
hatte, also sucht einen Seitengang. Wenn wir ihn hier nicht finden, müssen wir
es am anderen Ufer versuchen .«
Wir waren auf der rechten
Seite, und sechzig Schritte weiter stießen wir auf einen Seitengang, in dem
Treppenstufen nach oben führten. Auf dem ersten Absatz stand die Statue einer
Gottheit mit einem gehörnten Ziegenkopf. Ein Treppenabsatz folgte auf den
anderen, und ich hätte schwören können, daß wir uns bereits weit über der
Talsohle und im Innern eines Hügels befanden. Schließlich endeten die Stufen,
und wir erreichten eine Art halbrunden Vorraum mit
einem Marmorfußboden. In der Felswand befanden sich vier Eisentüren, und neben
jeder Tür stand eine steinerne Statue, die ein Porzellangefäß in den Händen
hielt.
»Wir sind wieder in
Ägypten«, sagte Meister Li. »Es sind Darstellungen der vier Söhne des Horus,
und in den Gefäßen befinden sich die Organe, die bei der Einbalsamierung der
Leiche entfernt wurden. Der mit dem Menschenkopf ist Am-set, und er schützt die
Leber. Hapi mit dem Hundekopf schützt die Lunge; der schakalköpf ige Dua-Mutef
schützt den Magen, und Kebech-Senuf mit dem Falkenkopf schützt die Eingeweide .« Meister Li rieb sich nachdenklich die Nase. »Der Stil der
Statuen ist nicht ägyptisch, sondern chinesisch, und ich frage mich, ob der
Lachende Prinz eine andere Symbolik im Sinn hatte. Hapis Kopf erinnert an den
Himmelshund. Vielleicht glaubte der Lachende Prinz, er verdiene einen
Leibwächter, der dem des Himmelskaisers ebenbürtig ist .«
Nicht alles war aus Stein
und unbeweglich. Meister Li nahm der Statue das Gefäß aus den Händen. Wir
sprangen alle erschrocken rückwärts, als die Tür neben der Statue zur Seite
glitt. Der Prinz steckte seinen Speer in den Rahmen, um zu verhindern, daß sich
die Tür zufällig wieder schloß. Wir hoben die Fackeln und traten in den Raum
dahinter. Klagende Morgendämmerung und Mondkind stießen einen Ruf des Staunens
aus.
Sie hatten es noch nicht
gesehen, wir schon. Wir befanden uns wieder im eigentlichen Grab. Die Geheimtür
war so geschickt in der Wand verborgen, daß wir sie nie entdeckt hätten. Jetzt
wußten wir, woher die frische Luft kam, und wie man eine Mumie im Jadegewand
bequem heraustragen konnte. Von munteren Gesellen im Narrengewand war nichts zu
sehen und zu hören.
Seit unserem letzten Besuch
hatte man auch nichts entfernt. Als wir in den Raum mit den Skeletten der
vergifteten Konkubinen in ihren Betten blickten, rannen Klagende
Morgendämmerung Tränen über die Wangen. Sie hatte vor langer Zeit mit diesen Mädchen
gelacht und geweint, und eines Tages war sie mit einer geflohen. Wie mußte es
gewesen sein, im Schatten von Tou Wan zu leben, und einem wahnsinnigen
Folterknecht und Mörder,
wie es der Lachende Prinz gewesen war, auf Gnade und Barmherzigkeit ausgeliefert
zu sein? Über allem hing damals die seltsame Macht eines geheimnisvollen
Steins. Meister Li ging zur Grabkammer und der Mumie von Tou Wan.
»Ochse, versuch, die
Jadeplättchen vom Schädel zu entfernen«, sagte er.
Es war mühsam und dauerte
lange. Aber schließlich gelang es mir, den Golddraht an den Ecken eines
Plättchens zu zerreißen, und dann ging es schneller. Weiße Knochen kamen zum
Vorschein. Plötzlich stieß ich einen Schreckensschrei aus und machte einen
riesigen Satz rückwärts. Ich weiß nichts über die Kunst des Einbalsamierens,
aber irgendwie waren die Haare noch vorhanden, und als die Haare hervorquollen,
glaubte ich, unter der Jade sei ein lebender Mensch. Ich faßte mich wieder und
entfernte die restlichen Plättchen. Meister Li zog die Haarnadel heraus, und
eine glänzende schwarze Locke, die auf den weißen Knochen schrecklich aussah,
glitt wie eine Schlange über meine Hand. Meister Li fluchte. Die Spitze der
Haarnadel war abgebrochen, »Der Splitter ist verschwunden, das Stück im Schrein
ist verschwunden, und wenn der Lachende Prinz das dritte Stück als Amulett
getragen hat... Himmel und Hölle, er ist auch verschwunden«, knurrte
Meister Li. Er kratzte sich am Kopf und runzelte die Stirn. »Merkwürdig.
Irgendwie habe ich damit gerechnet«, murmelte er. »In der Hölle ließ ich Tou
Wan sagen, der Stein ihrer Haarnadel sei ihr möglicherweise von ihrer Zofe
gestohlen worden. Weshalb vermutete ich, der Splitter sei verschwunden ?«
Wir wußten darauf natürlich
keine Antwort, und Meister Li machte sich schließlich achselzuckend auf
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