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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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paßte. Er half uns, die Waffen auf dem Rük-ken unter
den Narrengewändern zu verstecken. Die großen Gesichtstücher machten uns völlig
unkenntlich. »Vom ästhetischen Standpunkt aus gesehen, läßt die Zeremonie viel
zu wünschen übrig. Aber sie eignet sich vorzüglich zu einem Mord«, sagte
Meister Li grimmig. »Ich werde die Besichtigung nicht abwarten. Es wäre zu
gefährlich.
    Dieser Kerl und seine
fröhlichen Freunde haben versucht, uns umzubringen. Es ist an der Zeit, den
Spieß umzudrehen. Wenn wir mitten unter ihnen sind und sie sich plötzlich ohne
Anführer sehen, müßte es leicht sein. Aber denkt daran, einen oder zwei am
Leben zu lassen, damit wir erfahren, wo der Prinz ist .«
    Er bückte sich zu der
Sandale, in der sich keine Dietriche befanden, und zog die gerundete Spitze der
doppelten Sohle ab. Sie hatte ein kleines Loch mit einem Gewinde. Er griff
tiefer zwischen die beiden Sohlen und brachte eine dünne runde Klinge zum
Vorschein. Sie war kaum dicker als eine große Nadel, und er schraubte das Ende
in das Loch an der Sohlenspitze, die bequem in seine Handfläche paßte. »Ochse,
du bildest die Nachhut für den Fall, daß ich nicht treffe«, sagte er, »ich
sollte direkt vor dir sein. Wer meldet sich freiwillig als Vorhut ?«
    »Ich !« flüsterten Klagende Morgendämmerung und Mondkind gleichzeitig.
    Meister Li entschied,
Mondkind solle als erster gehen und Klagende Morgendämmerung hinter ihm. Wir
krochen wieder zum Rand zurück. Die Zeremonie nahm genau den Verlauf, den
Meister Li vorausgesagt hatte. Die lachenden Mönche tanzten langsam kreisend
auf den Thron zu. Sie umarmten nacheinander feierlich den Anführer, nahmen ein
Papierröllchen aus der Urne, tanzten zum Zeremonienmeister, der es entrollte
und mit lauter, wichtigtuerischer Stimme den Glückwunsch vorlas. Es handelte
sich dabei um plumpe, geistlose Witze. Zum Beispiel wünschte man einem Mönch,
bis in alle Ewigkeit in einem Faß mit Wein eingelegt zu sein, und einem
anderen, als Kissen in einem Bordell wiedergeboren zu werden. Jeder dumme Witz
wurde mit grölendem Gelächter aufgenommen.
    Alle Blicke richteten sich
auf den Thron und auf den Zeremonienmeister. Wir stiegen leise einen schrägen
Felsen hinunter und schlössen uns der Prozession an. Schwierig war nur, sich
den seltsam unkoordinierten Tanzschritten der Mönche anzupassen. Der Zug
näherte sich unaufhaltsam dem Anführer.
    »Bruder Eiterpickel werde
der Wunsch erfüllt, vom Transzendenten Schwein vergewaltigt zu werden !« brüllte der Zeremonienmeister.
    Selbst darauf folgte
Gelächter. Der letzte Kreis näherte sich dem Thron. Mir schlug das Herz bis zum
Hals, als Mondkind auf den Anführer zutanzte. Ich kannte keinen mutigeren
Menschen als ihn, aber er wurde grün im Gesicht. Die kurze zeremonielle
Umarmung gelang ihm jedoch ohne Zwischenfall, und er übergab sein Röllchen dem
Zeremonienmeister, der den schwachsinnigen Glückwunsch verlas. Es folgte
Klagende Morgendämmerung. Auch sie war grün geworden, aber sie schaffte es
ebenfalls. Nun war die Reihe an Meister Li.
    Ich hätte schwören können,
daß selbst seine faltige Haut einen grünlichen Anflug bekam. Er tanzte zum
Thron und breitete die Hände für die Umarmung aus. Plötzlich fuhr seine rechte
Hand zum Herzen des Anführers, und mit einer blitzschnellen Bewegung des
Handgelenks löste er die Sohlenspitze von der Klinge. Er nahm sein Röllchen und
tanzte zum Zeremonienmeister. Nun war ich an der Reihe. Ich merkte schnell,
weshalb die anderen grün geworden waren. Der Anführer hatte sich mindestens
seit sechs Monaten nicht mehr gewaschen. Mit dem nächsten Schritt wurden es
sechs Jahre und mit dem übernächsten sechzig. Meister Li hatte sein Ziel nicht
verfehlt. Der Kopf hinter der Papiermaske lehnte leblos an der Rückenlehne des
Throns. Die Klinge war so klein, daß beinahe kein Blut geflossen war, und ohne
die Sohle sah man sie nicht. Ich war erleichtert, daß ich den Kerl nicht
erwürgen mußte. Ich nahm ein Röllchen, tanzte weiter, aber der
Zeremonienmeister hatte etwas anderes mit mir vor. Offenbar hatte der Letzte in
der Reihe eine besondere Funktion.
    »Der Letzte soll der Erste
sein !« schrie der Zeremonienmeister. »Unserem zu spät
gekommenen Bruder sei der Wunsch gewährt, unseren Herrn auf seiner
Besichtigungstour zu tragen !«
    Ich sah mich nach einem
Stuhl oder einer Sänfte um, begriff aber schnell, daß man bei diesem uralten
Ritual den Anführer auf dem Rücken trug. Meister Li,

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