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Meister Li und der Stein des Himmels

Meister Li und der Stein des Himmels

Titel: Meister Li und der Stein des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barry Hughart
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Tagen
standen wir auf dem Kamm eines Hügels und blickten auf das Dach eines kleinen
Tempels. Meister Li erklärte, das sei unser Ziel. »Der Tempel des Liu Ling«,
sagte er. »Habt ihr schon einmal von ihm gehört ?« Wir
schüttelten die Köpfe.
    »Wir waren vermutlich keine
schlechte Gruppe, aber Ling war uns allen meilenweit voraus«, sagte Meister Li
und lächelte beim Gedanken an alte Erinnerungen. »Ich sehe ihn immer noch in
seinem Wagen, den zwei Hirsche zogen. Dahinter liefen ein paar Diener. Der eine
trug genug Wein, um Liu Ling zu erledigen, und der andere einen Spaten, um ihn
auf der Stelle zu begraben - soviel zum konfuzianischen Zeremoniell. Wenn ich
ihn besuchte, begrüßte er mich splitternackt, und ich höre ihn immer noch schreien:
Das Universum ist mein Wohnort, und mein Haus ist mein einziges Gewand.
Warum drängst du dich in meine Hose ? « Meister Li
wies auf den Tempel. »Ling kam zu dem Schluß, daß die Menschen nur auf Lügen
hören. Also baute er den Tempel der Illusion und gründete einen Orden, der das
Werk nach seinem Tod fortführt. Mondkind, kann Illusion allein einen Menschen
töten ?«
    Mondkind erwiderte
achselzuckend: »Mein Lehrer Lin Tse-ning machte einmal einen Räuber dadurch
taub, daß er ihm einredete, er höre im Nebenzimmer zwei riesige Drachen. Es gab
keine Drachen, und die Geräusche waren kaum laut genug, um die Spatzen zu
erschrecken. Trotzdem wurde der Räuber taub .« »Ochse?«
    »Großmutter Ho ärgerte sich
einmal maßlos über ihren Schwiegersohn. Sie versetzte ihn in eine Art Trance
und sagte ihm, er sei die Treppe hinuntergestürzt und habe sich am linken Bein
verletzt. Als er aus der Trance erwachte, machte er sich über sie lustig. Aber
am Tag darauf wurde sein linkes Bein blau und schwarz und schwoll an. Er konnte
sich kaum mehr rühren und eine Woche lang nicht arbeiten .« »Ausgezeichnet«, sagte Meister Li. »Meine jungen Freunde, ich muß mich an etwas
erinnern. Vor vielen, vielen Jahren habe ich unterwegs einen
Bombay-Stechapfelbaum gesehen, aber ich habe schon lange vergessen, wo das war.
Außerdem muß ich mir Dinge, die ich gesehen oder erraten, aber nicht völlig
verstanden habe, unter einem neuen Gesichtspunkt betrachten. Kurz gesagt, ich
muß eine Reise in die inneren Regionen meines Geistes antreten, und ich möchte euch
mitnehmen. Nichts ist gefährlicher als eine Reise nach innen. Wenn dein Geist
und deine Sinne dir sagen, daß in deinem Herzen ein Speer steckt, ist es dann
von Bedeutung, ob der Speer echt oder eingebildet ist ?«
    Ich dachte darüber nach.
»Ich glaube, daß man so oder so daran stirbt«, sagte ich, und Mondkind nickte
zustimmend.
    »Vergeßt das nicht«, sagte
Meister Li düster. »Der Tempel der Illusion ist Lings Meisterwerk, und schon
sehr viele Leute sind in der Kutsche vorgefahren und haben ihn im Sarg verlassen .«
    Mit diesen tröstlichen
Worten ging er den Hügel hinunter. Der Tempel war klein und schmucklos. Durch
einen kleinen Vorhof gelangte man in einen schlichten Raum, in dem ein Priester
an einem Tisch saß und in einer Handschrift las. Er hob bei unserem Eintreten
nicht einmal den Kopf. Meister Li schob eine Menge Geld über den Tisch. »Eins«,
sagte er und legte das nächste Häufchen Münzen daneben. »Zwei.« Er fügte ein
drittes hinzu. »Drei«, sagte er. Der Priester blickte zwar immer noch nicht
auf, läutete allerdings ein Glöckchen. Ein anderer Priester erschien und führte
uns in ein kleines Zimmer, in dem nur ein paar Pritschen standen. An der Wand
hing eine einfache Tafel.
    Ich war überrascht. Ich
hatte geheimnisvolle Musik, Weihrauchschwaden und das ganze Brimborium des
üblichen Schwindels erwartet, aber Liu Lings Illusionen kamen scheinbar ohne
schmückendes Beiwerk aus. Der Text auf der Tafel war in einfacher Schrift
geschrieben, die ich verstand, und ich las ihn interessiert.
    *
    Schmetterlingsträume
    Chuang Tzu sagte: »Einst
träumte ich, ich sei ein Schmetterling. Ich schwebte wie Blütenblätter in der
Luft und war glücklich, zu tun, was mir gefiel, ohne mir meiner selbst bewußt
zu sein. Aber bald erwachte ich und klammerte mich krampfhaft an mich, an
Chuang Tzu, der ich war. Ich frage mich: Träumte Chuang Tzu, ein Schmetterling
zu sein, oder träumte der Schmetterling, Chuang Tzu zu sein? Betrachtet tnan
Chuang Tzu und den Schmetterling, besteht natürlich ein Unterschied zwischen
ihnen. Aber liegt der Unterschied nicht nur in der Illusion der materiellen
Gestalt ?«
    Der stumme

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