Melina und die vergessene Magie
folgte der zweite Zauberspruch. Eine Brücke schwang sich elegant aus dem Nichts über den Krater, und gleichzeitig wurde es wesentlich kühler.
Lianna hielt den Blick gerade nach vorn gerichtet, während sie die Planken betrat. Hier war ihr Schwindelgefühl noch schlimmer als auf der Treppe. Die todbringende Lava schimmerte direkt unter der Brücke und bewegte sich mit der Langsamkeit eines schleichenden Raubtiers im Kreis. Ohne die schützende Magie des Zauberers wären Lianna und er vermutlich verbrannt. Eilig hastete sie auf die andere Seite.
Als Lianna aufatmete und sich umsah, entdeckte sie all das, was sie in den letzten Tagen von oben vom Turm aus gesehen hatte, und konnte es zum ersten Mal deutlich erkennen. Direkt vor dem Tor war die steinige Kraterlandschaft eingeebnet worden zu einem großen Platz, als wollte Morzena hier bald eine Art Markt abhalten. Oder eine Veranstaltung? Vorne gab es ein Podium für einen Redner. Oder einen Altar? Lianna war neugierig, aber sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als den grauhaarigen Magier zu fragen.
Hinter dem Versammlungsplatz, mitten in der Grassteppe, lagen zwei Dörfer, die erst vor Kurzem entstanden waren – die seltsamsten Dörfer, die Lianna je gesehen hatte. Sie hatte ihre Errichtung in den letzten zwei Wochen fasziniert von oben beobachtet. Das Dorf links bestand aus steinernen Halbkugeln mit Löchern, aus denen Rauch und glühende Hitze quollen. In der Mitte lag eine kleine Hütte, aus der manchmal erstaunlich viele Zauberer hinaustraten – die eigentlich gar nicht alle dort hineinpassen konnten. Das ganze Dorf wurde umschlossen von einer großen rötlich schimmernden Schutzhülle. Lianna hatte Morzena gefragt, und von ihr wusste sie, dass dieses Ding die Temperatur im Innern regelte. Es musste heiß genug sein für die Arbeit in den Feuerhütten, durfte aber nicht zu heiß werden, damit die Zauberer darin überlebten.
Das Dorf auf der rechten Seite bildete den absoluten Gegensatz. An einem verschneiten Fluss, der mitten hindurchführte, standen große Iglus. Auch dieser Ort wurde von einer Schutzhülle umgeben, die allerdings bläulich war. Und auch hier gab es Zauberer, sie wirkten jedoch in ihren Bewegungen weniger geschäftig als die anderen. In dicken Fellmänteln wankten sie zwischen den Gebäuden hin und her, und ihre eisverkrusteten Gesichter waren leer, als würde nichts in der Welt sie mehr interessieren.
»Starr sie nicht so an!«
Lianna wandte den Kopf und begegnete dem scharfen Blick des Magiers, der sie hergeführt hatte.
»Sie tun ihre Arbeit, und du solltest deine tun. Statt immer nur Morzena zu umschwänzeln, kannst du einen wichtigen Beitrag leisten.«
Lianna senkte den Kopf. Vermutlich sah es unterwürfig aus, aber sie wollte vor allem dem unangenehmen Feuer seiner Augen entkommen.
»Du wirst bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang hierherkommen und in beide Dörfer gehen. Lass dir Feuerkugeln und Eiskugeln von den jeweiligen Zauberern geben und lege sie in diese Vorratshalterung.«
Er deutete auf eine trichterförmige Vertiefung am Boden, direkt am Fuß der Schutzhüllen, dort, wo sie sich in der Mitte trafen.
»Kann ich die Dörfer denn betreten?«
Der grauhaarige Magier lachte leise. »Das wirst du wohl müssen. Sie können uns außerhalb nicht sehen. Und das ist auch gut so, sonst würden sie sich womöglich gegenseitig mit Blitzen beschießen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass du regelmäßig Nachschub bringst. Ohne Magie würden die Schutzhüllen in sich zusammenfallen, die Feuerhütten würden zu kalt und die Eishütten zu warm. Noch schlimmer: Unsere Arbeiter würden sich gegenseitig bekämpfen.« Er schmunzelte, als wäre das eine amüsante Vorstellung.
Lianna blickte zweifelnd in die leeren Gesichter der Eiszauberer.
»Sie wirken nicht, als wollten sie gegen irgendjemanden kämpfen.«
»Gut möglich«, erwiderte der Magier. »Sie haben wesentlich mehr von ihrem Kyee hergeben müssen als die Feuerzauberer, damit wir sie unterwerfen konnten.«
Unterwerfen?
Es kostete Lianna große Mühe, sich die Verblüffung diesem unheimlichen Mann gegenüber nicht anmerken zu lassen. Sie beschloss, in den nächsten Tagen im Turm Augen und Ohren aufzusperren, um zu erfahren, was hier vor sich ging.
»Und ich kann die Schutzhüllen durchdringen?«, fragte sie stattdessen.
Er nickte. »Ich habe dafür gesorgt, dass du es kannst. Du wirst einmal frieren und einmal schwitzen.« Er lächelte mit kalten Augen. »Aber
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