Melina und die vergessene Magie
der Tiere beugte, um es zu berühren, stieß Tann ein heiseres Krächzen aus, schwang den Rucksack von seiner Schulter und wühlte nach einer Magiekugel, die er in Abwehrhaltung umklammerte. Dann blickte er verwundert auf den Chulu – der sich nicht bewegte. Er atmete nicht einmal!
»Unglaublich«, stieß Tann hervor und warf die Kugel zurück in den Rucksack. »Als künstlich geschaffene Kreaturen haben sie kein Kyee. Sie brauchen den Befehl ihres Herrn, aber ich wusste nicht, dass sie ohne ihn so … tot wirken.«
Melina tappte vorsichtig weiter durch das Gras. Als sie durch das einzige Fenster hineinlinste, musste sie feststellen, dass das Innere nicht anders aussah als der Gartenschuppen ihres Nachbarn. Rostige Heugabeln, stumpfe Rechen und eine Art Schubkarre – nichts deutete darauf hin, dass jemand hier wohnte.
»Sind wir zu spät gekommen?«, fragte Melina enttäuscht.
Tann schüttelte den Kopf. »Denk an Salius’ Wandelhütte.«
»Hm, und wie bricht man in Gebäude ein, die man nicht sehen kann?«
Auf einmal spürte sie Tann dicht neben sich, seine Hand legte sich über ihren Mund. Er duckte sich und deutete in Richtung Eingang, der hinter der nächsten Hausecke lag. Jetzt hörte Melina es auch: Die Hüttentür öffnete sich und Schritte strichen durch das trockene Gras. Von hier aus konnten sie den Zauberer nicht sehen, aber sein Schatten legte sich direkt vor ihnen über die Wiese.
»Chulu assla n’garr«, ertönte seine Stimme – viel zu nah. Der Schatten machte einige weiträumige Armbewegungen.
»War té en léal!«
Dann war es wieder still.
»Mit dem zweiten Zauberspruch hat er seine Sänfte beschworen. Aber was bedeutete der erste?«, flüsterte Tann.
Melina hatte so eine Ahnung. Und sie erstarrte, als ein bekanntes Geräusch ihre Vermutung bestätigte. Langsam drehte sie sich um und sah in die glühenden Augen der Chulus. Das ganze Rudel hatte sich auf den Befehl hin erhoben und wirkte nun wesentlich lebendiger als noch vorhin. Unter dem fast flüssig wirkenden silbernen Fell des vordersten Tieres spielten die Muskeln in der Morgensonne, und als es das Maul öffnete, zeigte es ein fürchterliches Grinsen voll spitzer Zähne. Hinter dem Leittier bildeten die anderen einen perfekten Halbkreis.
Das ist also Aryks Alarmanlage, wenn er das Haus verlässt, dachte Melina. Und wenn sie nicht gefressen werden wollten, brauchten sie
jetzt
eine gute Idee.
»Eine Magiekugel?«, fragte sie leise.
Tann schnaubte angespannt. »Ja, das Licht eines Tages wäre jetzt nicht schlecht! Aber mein Rucksack steht noch da drüben in der Wiese. Wie sollte ich wissen, dass diese Tiere uns doch noch gefährlich werden können?«
An seiner Stimme konnte Melina hören, wie wütend er auf sich selbst bereits war, und so unterdrückte sie ihren Seufzer der Verzweiflung.
»Kann ein Wesen ohne Kyee überhaupt töten?«
»Besser als jedes andere«, murmelte Tann. »Sie kennen kein Mitleid.«
Der Gedanke, dass sie in dieser fremden Welt sterben könnte, kam ihr heute zum zweiten Mal, und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wie viele Atemzüge hatte sie noch? Aber als ihr Verstand bereits aufgeben wollte, arbeitete ihr Unterbewusstsein noch auf Hochtouren. Ihre innere Stimme flüsterte ihr etwas zu: Kyee! Wie war das noch?
»Tann«, murmelte sie. »Glaubst du daran, dass man einem seelenlosen Wesen Kyee einhauchen kann, wenn man ihm eine eigene Geschichte gibt?«
Tann sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren.
»Das ist nicht der Zeitpunkt für Märchen!«
Sie krallte die Finger in seinen Arm. »Sag schon!«
»Wie beim Riesen Godor? Kann sein.«
Tanns Zögern machte ihr nicht gerade Mut. Nun, vielleicht war sie keine Heldin, aber wenn es etwas gab, das sie konnte, dann war das Geschichten zu erfinden. Sie musste es versuchen!
»Chulus«, sprach sie die Hunde mit zitternder, leiser Stimme an. Das Knurren des Leittieres wurde lauter, und es machte einen Schritt auf sie zu.
»Chulus!«, wiederholte sie lauter, und ihre Stimme überschlug sich ein wenig. »Ihr seid eine stolze Rasse – wild, frei und ungezähmt. Niemand kann euch befehlen, niemand kann euch lenken. Eure Mutter war Nagoná, die Tochter des Windes.«
Das vorderste Tier hatte aufgehört zu knurren, die Anspannung in seinen Muskeln hatte allerdings nicht nachgelassen.
»Nagoná verliebte sich in den Mond, in Ria Té. Und als auch er in Liebe zu ihr entbrannte, versuchte die Windtochter den Mond zu erreichen. Sie rannte
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