Melina und die vergessene Magie
»Vergesst die Xix.
Lauft!
«, schrie er, raffte seinen Rucksack an sich und rannte los.
Melina versuchte herauszufinden, was ihn so erschreckt hatte, konnte jedoch zunächst nichts sehen. Die Wiese war in warmes Sonnenlicht getaucht, nur ein einzelner dunkler Fleck flog darüber wie der Schatten einer kleinen Wolke. Allerdings war der Himmel vollkommen blau. Dann erkannte sie, dass dieser dunkle Fleck das Gras durchkämmte und sich dabei bewegte. Und er kam schnell näher. Der Wächter!
»Schnell!«, zischte Melina und riss nun auch an Erels Handgelenk.
Erel folgte ihrer Anweisung sofort, er hatte verstanden, dass es um ihr Leben ging. Im Laufen zog er eine Magiekugel vom Gürtel und schleuderte einen Blitz nach hinten.
Melina sah sich voller Panik um. Erels Magie hatte die Kreatur genau getroffen, aber sie lief weiter, als ginge der Blitz sie nichts an. Melina konnte den Blick fast nicht mehr von der Schattenkatze abwenden. So nah und bei Tageslicht hatte sie sie noch nicht gesehen. Es war, als wäre sie kein lebendes Wesen. Das Sonnenlicht erreichte die Schattengestalt nicht, als wäre sie ein Stück Mitternacht, das zufällig die Form einer Raubkatze angenommen hatte.
»Auf
die
Erklärung bin ich aber gespannt!«, zischte Erel.
Melina wusste, dass es zu dieser Erklärung nicht mehr kommen würde, wenn die Kreatur sie in wenigen Sekunden erreichte.
»Tann!«, brüllte sie nun so laut, dass Erel zusammenzuckte. »Das Licht eines Tages! Und bleib gefälligst stehen!«
Der Zauberlehrling riss sich im Laufen den Rucksack vom Rücken und tastete darin herum. Zum Glück wurde er dadurch langsamer, und Erel und Melina konnten ihn einholen. Als Tann die Magiekugel herauszog, legten sie beide ihre Hände um Tanns. Gleichzeitig drehte Melina sich um und sah die Schattenkatze zwei Meter vor sich im Gras. Sie duckte sich und sprang genau auf ihre Kehle zu. Als das Tier das Maul aufriss, schienen Ober- und Unterkiefer zu zerfasern, und aus den Fasern wurden spitze, schwarze Zähne. Im gleichen Moment hatte Erel Tann den Rucksack entrissen und schwang ihn wie eine Keule gegen das Raubtier. Aber der Schlag bremste es nur kurzfristig, fauchend schlug es mit einer dunklen Pranke nach Melinas Beinen. Die Wucht hieb sie zu Boden, und sie spürte ein scharfes Brennen an ihrem Unterschenkel. Sie wusste, dass der nächste Angriff sie töten würde, eine Flucht war nicht mehr möglich. Doch bevor sie nachdenken konnte, hielten Tann und Erel ihr ihre Hände entgegen, die um die Magiekugel geschlossen waren. Melina griff danach und Tann sagte etwas, was sie nicht genau hörte. Plötzlich drehte sich alles um sie, und es wurde dunkel. Fühlte sich so der Tod an? Seltsam! Nichts tat weh, nur diese Leere im Kopf war unangenehm, und alles war so ungewohnt leicht. Dann wurde es wieder hell, und Melina sackte geblendet zu Boden.
Weiches Moos. Der Duft von Wildblumen. Wind auf der Haut. Das alles fühlte sich sehr wirklich an. Und sie war sich sicher, dass man im Jenseits eine Wunde nicht mehr spüren konnte. Die Stelle am Bein, wo die Schattenkatze sie erwischt hatte, schmerzte heftig. Melina öffnete die Augen und sah sich um. Sie lag im Gras, in einer Senke zwischen grünen Hügeln voller blauer Blumen. Über ihrem Kopf bewegten sich die Äste eines Baumes im Wind.
Langsam setzte sie sich auf und untersuchte ihr Bein. Erst jetzt erkannte sie, was für ein Glück sie gehabt hatte: Der Stiefel hatte den größten Teil des Angriffs abgehalten, nur eine tiefe Schramme verlief quer über ihr Knie und blutete, aber es sah nicht so schlimm aus, wie sie erwartet hatte. Sie riss ein Stück vom Saum ihres Kleides ab und drückte es auf die Wunde, wie Mam es ihr beigebracht hatte. Als sie aufsah, begegnete sie Erels vor Wut funkelndem Blick.
»Was?«, fragte sie irritiert.
»Dieses Ding, das uns da beinahe erwischt hätte …«, stieß er hervor. »Ich habe noch nie einen Wächter gesehen, aber ich habe davon gehört.«
Melina schluckte. Und schwieg.
»Du bist ein
Mensch!
Oder? Deshalb wusstest du nichts über unsere Welt.«
Sie bemühte sich ein Lächeln zustande zu bringen, doch es gelang ihr nicht. Schließlich nickte sie. »Ist das so schlimm?«
Statt einer Antwort stieß Erel die Luft aus den Lungen.
»Es ist nicht ihre Schuld«, sagte Tann leise. »Ich habe aus Versehen ein Tor in die Menschenwelt geöffnet. Und jetzt ...«
»Aus
Versehen?
«, wiederholte Erel, rot vor Zorn. »Um Weltentore zu öffnen, benötigt man einen der
Weitere Kostenlose Bücher