Melina und die vergessene Magie
große Vögel um ihre Köpfe herum, äußerst hässliche Tiere mit ledrigen Flügeln und kräftigen Klauen. Erel und Tann hatten Mühe, sie mit den Händen abzuwehren und sich dennoch auf ihren Zauber zu konzentrieren. Als es ihnen endlich gelang, verpufften die Magiekugeln in ihren Händen mit einem enttäuschend leisen Ton, und die sandfarbenen Tiere flogen aufgeregt weiter um sie herum. Ganz plötzlich wirkten ihre Bewegungen nicht mehr so unkoordiniert, sie schossen alle gleichzeitig direkt auf Erel zu, umkreisten ihn genau einmal und sausten dann davon, auf den nächsten Quergang zu.
»Heiliges Eis! Sie haben das Buch!«, schrie Erel.
»Wirf ihnen einen Blitz hinterher«, keuchte Melina. »Sie dürfen die Feuerzauberer nie erreichen!«
»Mit Magie kann ich sie nicht besiegen.« Erel klang verzweifelt. »Es sind Kreaturen der Feuerzauberer. Im Grunde gibt es sie gar nicht.«
Melina starrte ihn eine Sekunde lang an, dann wandte sie sich ab und rannte den geflügelten Wesen hinterher. Bis der Weg endete – an einem Balkon.
»He, kommt zurück!«, brüllte sie. Unbeirrt flogen die vier Tiere in einer keilförmigen Formation den Wolken entgegen. Einer von ihnen trug das leuchtend rote Buch in seinen Krallen.
»Ihr seid die Limaren und lebt in den Oasen der Wüste Le‘edin«, rief sie ihnen so laut wie möglich hinterher. Die Formation der Vögel geriet durcheinander, als zwei von ihnen versuchten seitlich auszubrechen.
»Wer durch die Wüste reist, kennt euch als Glücksvögel, denn ihr fliegt den Reisenden voraus, um ihnen die nächste Wasserstelle zu zeigen. Niemand muss dort verdursten, wenn er auf den wunderschönen Gesang der Limaren hört.«
Die beiden Vögel kehrten langsam und verwirrt zurück und kreisten in sicherer Höhe über Melina. Mit sanfter Stimme sprach sie weiter: »Kehrt zurück in eure Heimat, die Wüste Le’edin, weit im Süden des Landes! Folgt der Sonne, euer Orientierungssinn wird euch leiten. Und lasst das Buch hier. Ihr braucht es nicht mehr.«
Mit aufgeregtem Trällern, das wirklich wie ein Lied klang, breiteten drei der Vögel ihre Flügel aus und flogen hoch über den Eispalast hinweg in Richtung Süden. Der Größte von ihnen, der das Buch trug, kreiste unentschlossen vor Melina. Als er ihr am nächsten war, ließ er das Buch fallen und folgte den anderen Limaren. Das Buch sauste quer über den glatten Balkon – und Erel direkt hinter ihm her. Er hatte sich auf dem Bauch über den Boden rutschen lassen und fing es gerade noch ab, bevor es unter der Brüstung hindurch in die Tiefe fallen konnte, wo es mitten im Schmelzwasser gelandet wäre. Triumphierend hielt er es im Liegen hoch, und Melina stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Wohin wollten sie zuerst fliegen?«, fragte sie dann.
Erel stand auf, das Buch an seine Brust gedrückt und sah mit unergründlichem Blick in den Himmel.
»Welche Richtung ist das?«, fragte Melina weiter. »Und gibt es dort eine Gegend, in der Feuerzauberer leben?«
»Ursprünglich wollten sie nach Westen«, erwiderte Erel. »Vielleicht zu den Vulkanen von Rosondor ... Aber komm bitte von dem Balkon herunter.« Er ging langsam und vorsichtig rückwärts. »Unser Vertrauen in ihn war sicher größer als verdient.«
Melina betrachtete den Überhang aus Eis misstrauisch und sprang schnell in den Gang zurück. Der Balkon antwortete mit einem eindeutigen Knirschen.
Als Melina an Erel vorbeigehen wollte, hielt er sie am Arm zurück. »Gibt es noch mehr, was ich über dich wissen sollte? Was hast du da gerade gemacht? Bist du in deiner Welt eine Magierin?«
Ein dröhnendes Donnern ließ sie aufschrecken. Das Geräusch kam irgendwo aus dem Inneren des Palastes.
»Das erzählt sie dir später!«, rief Tann und lief voraus, zurück zur Dienstbotentreppe. Erel und Melina folgten ihm eilig, aber kurz vor dem turmähnlichen Abstieg blieben sie alle entsetzt stehen.
»Die Treppe ist nicht mehr da«, flüsterte Tann. Vor ihm gähnte ein tiefes, dunkles Loch. Nun wussten sie, woher das Donnern ein paar Sekunden zuvor gekommen war.
Nebelwald
Auf ihrer Suche nach einer anderen Treppe hörten Melina, Tann und Erel immer wieder Geräusche, die das Gebäude zum Beben brachten, und Verzweiflung lag in der Luft. Als sie endlich hinter einer Kurve im nördlichen Teil einen eisglatten Abgang fanden, beschlossen sie erleichtert, ihn zu nutzen, auch wenn sie nicht sehen konnten, wo die Rutschbahn hinführte. Melina ließ sich als Zweite hinuntergleiten
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