Melina und die vergessene Magie
rauschenden Wassers ließ den schnellen Verfall erahnen. Sie konnte sich vorstellen, wie Erel sich fühlte. Sicher hatte er insgeheim gehofft, seinen Vater hier zu finden – so wie sie auf die Hilfe der Zauberer hier gehofft hatte.
Es war das seltsamste Gebäude, das Melina je betreten hatte. Licht drang durch alle Mauern und machte sie so durchsichtig wie dickes, verbeultes Glas. Was Melina dort hindurch sah, war stark verzerrt, sodass sie die Einrichtung der Räume nur erahnen konnte. Ein bisschen unheimlich, fand Melina, denn es war nicht zu sehen, ob sich jemand hinter diesen Mauern verbarg.
Vorsichtig hob sie die Füße über herumliegende Eisbrocken und folgte Erel und Tann durch die langen Gänge. Sie kam sich vor wie ein unerwünschter Beobachter, der durch fremde Fenster späht. Ein Raum war riesig groß, vereinzelt waren Stühle an den Wänden zu erkennen, und an der Decke hing ein großer Kronleuchter.
»Der Ballsaal«, erklärte Erel, als er Melinas Blick sah. Dann deutete er nach vorn, wo der Gang sich in einen noch viel größeren Raum öffnete. »Die Freitreppe! Als ich als kleines Kind zum ersten Mal davorstand, dachte ich, sie führt direkt in den Himmel.«
Melina bemerkte, dass seine Stimme zitterte. Das Ding vor ihnen war keine Treppe mehr, die glänzenden Stufen hatten sich in eine steile, glatte Fläche verwandelt. Am oberen Ende, wo sie sich einmal in zwei Läufe geteilt hatte, saß eine klobige Gestalt. Eine Statue aus Eis. Der Thron stand noch, doch der Mann oder die Frau darauf war nur noch ein unförmiger Klumpen.
»König Tius!«, flüsterte Erel mit einem Kloß im Hals. »Der Vater des jetzigen Königs.« Er wandte sich abrupt ab und drängte die beiden nach links. »Schnell, wir nehmen die Dienstbotentreppe. Sie liegt etwas verborgener, vielleicht gibt es sie noch.«
Tann hörte das schrecklich knackende, berstende Geräusch zuerst.
»Vorsicht!«, brüllte er und riss Erel und Melina mit sich durch eine kleine Tür in einen Seitengang. Der ganze Palast erzitterte, und mit ohrenbetäubendem Donnern stürzten Tonnen von Eis herab. Die gesamte Decke kam herunter! Säulen neigten sich zur Seite und kippten im Zeitlupentempo auf den Boden, wo sie wie gefällte Riesen zerbrachen. Innerhalb weniger Sekunden war die ehemalige Halle verschüttet.
»Hätten wir versucht, über die Freitreppe nach oben zu kommen, wären wir jetzt tot«, stellte Melina mit zitternden Lippen fest.
Erel war leichenblass. »Das war der Hauptturm. Der stolze Mittelpunkt des Palastes.«
Die Wendeltreppe für die Dienstboten befand sich in einem Aufgang, den Melina nur zögernd betrat. Erleichtert seufzte sie, als es am oberen Treppenabsatz wieder hell wurde. Auf der rechten Seite klaffte ein großes Loch in der Decke, doch Erel führte sie nach links. Auf den ersten Blick wirkte dieser Flügel des Gebäudes gut erhalten. Das orangefarbene Licht der tief stehenden Sonne schien schräg durch das Eis hinein.
»Das sind die Schlafräume der Berater. Es ist nicht mehr weit.«
Tatsächlich konnte man die Umrisse von Betten, Schränken und Stühlen erkennen. Erel rannte ein Stück voraus.
»Hier ist es! Sogar die Jambuela meines Vaters ist noch da.«
»Wir sind nicht gekommen, um ein Instrument zu suchen!«, knurrte Tann. Melina wandte sich ab, um Erel allein zu lassen. Im Gegensatz zu Tann konnte sie ihn verstehen: In all diesem Chaos war das Musikinstrument ein vertrauter Anblick für ihn, eine Erinnerung an seinen Vater. Ob er ihm das Spielen und das Singen beigebracht hatte?
Sie ging ein paar Schritte an dem Raum vorbei auf die nächste Abzweigung zu. Ein Gang führte nach rechts, tiefer in den Palast hinein, und einer nach links, vermutlich zu einem Balkon, denn durch das Eis war ein großes Quadrat aus Sonnenlicht zu sehen. Aber was war das? Konnte das Licht solch eine Sinnestäuschung hervorrufen? Sie glaubte, vor dem Balkon eine Bewegung zu sehen. Vier kleine durcheinanderwirbelnde Schatten. Erschrocken zuckte sie zurück und eilte zu den anderen.
Erel hielt soeben strahlend ein kleines Buch mit einem roten Ledereinband hoch über den Kopf. Als er Melinas Blick bemerkte, steckte er es schnell in seine Weste und ging auf sie zu.
»Da draußen ist irgendetwas«, flüsterte sie.
Tatsächlich war dort gerade wieder eine Bewegung zu erkennen. Tann und Erel nickten sich zu, nahmen jeder eine Magiekugel in die Hand und sprangen gemeinsam auf den Gang. Melina folgte ihnen vorsichtig. Auf einmal flatterten vier
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