Melina und die vergessene Magie
als hätte sie ein Grab betreten. Ihre Knie wollten stehen bleiben, aber Tann ging mit festem Schritt voraus, vielleicht noch ein bisschen schneller als zuvor. Seine Bewegungen erinnerten sie, wie schon früher im Wald, an einen Wolf – schnell und geschickt. Und an keiner Abzweigung blieb er stehen, um zu überlegen. Nach einer Weile sahen sie endlich die Äxte. Sie waren mit dem Schaft in den Boden gerammt worden und bildeten eine endlose Reihe in der Mitte des Weges. Die scharfen Klingen funkelten Melina, Tann und Erel entgegen.
»Passt auf eure Kleidung auf«, ermahnte Tann seine Freunde. »Wenn Stoff die Klingen berührt, wird er sofort zerschnitten. Dass ihr nicht hinfallen solltet, versteht sich von selbst.«
Melina musterte die Äxte mit einem Schauder und fühlte sich mit einem Mal noch wackeliger auf den Beinen, während sie versuchte, seitlich an ihnen vorbeizubalancieren.
Je weiter sie kamen, desto mehr Abzweigungen gab es. Und immer unheimlicher wurden die Stimmen und das Geheul.
»Woher kennst du eigentlich den Weg?«, fragte Melina, die dicht bei Tann blieb. »Ich dachte, du warst noch nie hier?«
Ruckartig drehte sich Tann zu ihr um. »Heiliges Eis! Lass mich doch nachdenken!«
Erst jetzt spürte sie, dass er keinesfalls so ruhig und mutig war, wie sie gedacht hatte. Wie sollte er auch? Die Höhle musste ihm noch viel unheimlicher sein als ihr selbst. Schließlich war er mit den Geschichten um den Gesang des Windes aufgewachsen. Die Gespenster seiner Kindheit aus dem Kopf zu bekommen – das erforderte echten Mut!
»Hast du denn eine Idee, wo wir suchen müssen?«, fragte Erel. Sein Unbehagen war aus seiner Stimme deutlich herauszuhören. Im gleichen Moment fuhr eine starke Windbö durch den Gang und ließ sogar ihre Kleidung flattern. Der Gesang, der dieser Bö folgte, klang wie ein schlecht aufeinander abgestimmter Chor in einer Kathedrale. Tann senkte den Kopf und hielt sich die Ohren zu. Erst eine Weile nachdem längst wieder Stille herrschte, hob er den Kopf.
»Ich schaff das nicht!«, keuchte er mit feuchten Augen.
Melina hatte ihn noch nie so verzweifelt gesehen. Spontan legte sie den Arm um ihn – wobei sie nicht höher reichte als bis zu seiner Taille. »Vorhin bist du einer Richtung gefolgt. Woher wusstest du, wohin wir gehen müssen?«
Tann wirkte abwesend, aber durch Melinas Nähe kam er langsam wieder zu sich. »Und wenn mich vorher meine Ahnen rufen?«, fragte er nervös.
»Der Wind kann dich nicht rufen«, widersprach Melina und drückte seine Hand noch fester. »Es klingt nur so – aber hier ist niemand außer uns.«
Tann nickte verwirrt. Dann begegnete er endlich wieder Melinas Blick, gerade und konzentriert. »Jedes Bogan-Kind weiß, nach welchem Muster die Äxte aufgestellt sind. Und dass es tote Gänge gibt, in denen Äxte nicht gedeihen können, weil es dort Verwirbelungen gibt. Der größte Wirbel befindet sich an der tiefsten Stelle Richtung Osten.«
Erel überlegte. »Die Hexe hat gesagt: ›dort, wo der Wind auf sich selbst trifft‹. Natürlich! Ich hielt das für eine poetische Umschreibung, aber …«
»… es ist ein realer Ort!«, bestätigte Tann Erels Gedanken.
Schweigend folgten sie ihm an der Reihe der Äxte entlang immer tiefer in das Labyrinth. Bald schon wurde der Wind stärker – und die klagenden Stimmen wurden lauter. Alle drei hielten sich die Ohren zu. Am liebsten hätte Melina die Heuler angebrüllt, sie sollten endlich Ruhe geben. So weit stimmten die Gespenstergeschichten: Man konnte durchaus den Verstand verlieren!
»Ist es hier?«, schrie Erel gegen den Lärm an.
Tann nickte.
Erel riss zwei schmale Streifen von den Ärmeln seines zerschlissenen Hemdes ab und rollte sie zu kleinen Kugeln zusammen, die er sich in die Ohren steckte. Als er endlich die Hände frei hatte, strich er damit über die Oberflächen des Ganges. Der helle Fels bildete links und rechts eine Nische, in der der Wind sich fangen konnte. Erst jetzt spürte Melina, dass hier der Wind auch von vorn kam, aus einer anderen Öffnung.
»Wenn es einen Geheimgang gibt – wie sollen wir den finden?«, fragte sie Erel, aber er antwortete nicht, sondern strich weiter über die Wände. Melina vermutete, dass er sie nicht gehört hatte. Dann wandte er sich um und deutete auf den Fels vor sich.
»Irgendwo hier kann ich starke Magie spüren«, sagte er laut. »Tretet zurück!«
Er nahm eine Magiekugel aus der Westentasche, legte sie auf die Handfläche, während seine Lippen
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