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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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Eltern mich auf, benetzten mich, als sie mich umarmten, mit ihren Tränen, welche sich, wie mir schien, sowohl der Zuneigung als auch dem Gram verdankten. Jedes Ding meiner neuen Umgebung mutete mich so fremd an, daß dieser Wechsel auch auf mich selbst abgefärbt haben muß. Ja, ich fühlte mich derart verändert, daß ich dasselbe auch für die anderen voraussetzte, und, über das Gegenteil belehrt, höchst verwundert gewesen wäre.
    Die Verhandlungen folgten einander mit einer Schnelligkeit, welche in mir einen berauschenden, ja vergiftenden Effekt hervorrief. Ich hatte nun mein zwölftes Jahr erreicht, und die beengten Umstände meines bisherigen Lebens hatten, wie nicht anders zu erwarten gewesen, meine Einbildungskraft bis zur Exaltation gesteigert, meine anderen Fähigkeiten jedoch stark beeinträchtigt. So erwartete ich nun, sooft die Tür aufging, ein neues Abenteuer, doch geschah das nur selten und bestand dann lediglich in der Ankündigung der Andachten, der Mahlzeiten und der Unterweisungsstunden. Erst am dritten Tag nach meiner Ankunft im Palast der Moncada öffnete sich die Tür zu ungewöhnlicher Stunde (ein Umstand, welcher mich vor Erwartung erschauern machte), meine Eltern traten zu mir ein, umgeben von einer Dienerschar und in Begleitung eines Jünglings, dessen Körpergröße und ausgeprägte Gesichtszüge ihn älter als mich erscheinen ließen, obschon er in Wahrheit ein Jahr jünger war.
    ›Alonzo‹, so wandte mein Vater sich an mich, ›umarme deinen Bruder.‹ Ich trat mit der Ungeduld jener jugendlichen Zuneigung auf den Ankömmling zu, die von jedem neuen Anspruch auf ihren Überfluß entzückt ist und beinahe wünscht, dieser Ansprüche möge kein Ende sein. Doch wurde ich alsbald verwirrt und zurückgestoßen durch den zögernden Schritt meines Bruders sowie durch die gemessene Kälte, mit welcher er die Arme breitete und für einen Augenblick den Kopf gegen meine linke Schulter neigte, und mich dann mit einem Blick bedachte, in dessen durchbohrend hochmütigem Schillern nicht der kleinste Strahl brüderlicher Liebe zu entdecken war. Wie dem auch sei, wir hatten unserm Vater gehorcht und einander umarmt. ›Und nun laßt mich sehen, wie ihr euch die Hände reicht‹, sagte dieser in einem Ton, als würde er an solcher Geste die größte Freude empfinden. So hielt ich denn meine Hand dem Bruder entgegen, und wir verharrten einige Zeit in dieser Haltung, an der meine Eltern sich in einiger Entfernung zu weiden schienen.
    Jetzt kamen Vater und Mutter auf uns zu und umarmten uns. Ich umhalste sie dankbar, wogegen mein Bruder ihre Liebkosungen mit einer hochmütigen Ungeduld über sich ergehen ließ, welche nach deutlicherer Anerkennung zu erlangen schien.
    Danach bekam ich die drei nicht mehr zu Gesicht, und zwar infolge der großen Verwirrung, darein die ganze, wohl an die zweihundert Domestiken umfassende Haushaltung noch am selben Abend gestürzt wurde. Denn der Herzog von Moncada, jene ehrfurchtgebietende, ihren eigenen Tod schon vorwegnehmende Erscheinung, welche ich nur jenes eine Mal erblickt, war aus dem Leben geschieden. So wurden denn all die Wände ihres Gobelinschmuckes entkleidet, und sämtliche Gemächer füllten sich mit Geistlichkeit. Ich selbst wurde von meinen Aufwärtern vernachlässigt und schlenderte so lange durch die geräumigen Zimmer, bis ich, aus Zufall, einen schwarzen Samtvorhang zur Seite schob und eine Szene beobachten konnte, welche mich, jung wie ich war, erstarren ließ: vor mir saßen Vater und Mutter, ganz in Schwarz gehüllt, zu Seiten einer Gestalt, welche ich für meinen schlafenden Großvater hielt, doch war sein Schlaf schon sehr tief. Auch mein Bruder war zugegen, gleichfalls in Trauer gekleidet, doch konnte die sonderbare, ja groteske Vermummung nicht die Ungeduld verbergen, mit welcher er dieses Gewand ertrug. Und die Begierde, von der seine Züge wetterleuchteten, zusammen mit dem Hochmut, der aus seinen Augen blitzte, schien ihren Grund in jener Ungeduld zu haben, mit welcher der Part, den zu spielen er gezwungen war, ihn erfüllte.
    Ich stürzte in den Raum; ward von der Dienerschaft daran gehindert; fragte: ›Warum darf ich nicht hier sein, wo der Jüngere sein darf?‹ Ein Geistlicher zog mich aus dem Gemach. Ich wehrte mich und frug mit einer Arroganz, die meinem Selbstgefühl wohl besser zu Gesicht stand als meiner Stellung, ob er nicht wisse, wer ich sei?
    ›Der Enkel des verstorbenen Herzogs von Moncada‹, war die Antwort.
    ›Und doch

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