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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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öffneten mir die Augen: ›Zwischen euch beiden klafft eine unüberbrückbare Kluft.‹
    ›Nun ja, er ist Euer Lieblingssohn.‹
    ›O nein – der Himmel sei mein Zeuge –, dies ist es nicht.‹ Diejenige, welche sich bisher den Anschein so großer Strenge, Entschlossenheit und Unerschütterlichkeit gegeben, hatte diese Worte mit einer so echten Aufrichtigkeit ausgesprochen, daß sie mir bis ins innerste Herz drangen: meine Mutter hatte den Himmel gegen die Vorurteile ihres eigenen Kindes zu Hilfe gerufen.
    Ich war tief gerührt und sagte bloß: ›Aber, Gnädigste Frau Mutter, solche Kluft ist mir unerklärlich.‹
    ›Möchtest du die Erklärung von deiner eigenen Mutter hören?‹
    ›Von jedem Menschen, der sie mir geben kann, Gnädigste Frau Mutter.‹
    ›Von der eigenen Mutter!‹ wiederholte sie, meine Antwort nicht beachtend, und küßte das Kruzifix, welches sie überm Busen trug. ›Oh Gott, Deine Strafe ist gerecht, und ich nehme sie auf mich, obschon sie mir durch mein eigen Fleisch und Blut auferlegt wird. So höre denn – du bist ein Kind der Sünde‹, sagte sie, indem sie sich mir ganz plötzlich zuwandte. ›Du bist ein Kind der Sünde –, dein Bruder ist es nicht. Dein störendes Eindringen in deines Vaters Haus gereicht unserer Familie nicht nur zur Unehre, sondern ist auch eine fortdauernde Mahnung an jenes Verbrechen, welches um so schwerer wiegt, da es keine Vergebung finden kann.‹ Ich stand nur da und brachte kein Wort hervor. ›Ach! Mein Kind‹, fuhr sie fort, ›hab doch Mitleid mit deiner Mutter! Ist denn dies Bekenntnis, ihr vom leiblichen Sohn abgenötigt, noch nicht genug, ihren Fehltritt zu sühnen?‹
    ›Fahrt nur fort, Gnädigste Frau Mutter, nun kann ich alles ertragen!‹
    ›Dies mußt du auch, da du mich nun einmal zu dieser Enthüllung gezwungen. Du mußt wissen, ich bin von weit niedrigerem Adel als dein Vater –, und du warst unser erstes Kind. Er liebte mich und sah in meiner Schwäche ein Zeichen meiner Hingabe an ihn. So verzieh er mir, wir wurden vermählt, und dein Bruder ist das rechtmäßige Kind aus dieser Ehe. Dein Vater, um meinen Ruf als den seiner angetrauten Gattin besorgt, kam mit mir überein, dich als unseren legitimen Sproß auszugeben. Das war um so leichter, als ja unsere Vermählung in aller Heimlichkeit stattgefunden hatte und auch deren Zeitpunkt ungewiß geblieben war. Jahrelang weigerte sich dein Großvater, wegen der Heirat erzürnt, uns zu empfangen, und so lebten wir in größter Zurückgezogenheit. – Ach, wäre ich darin doch auch gestorben! Erst wenige Tage vor seinem Tode wurde dein Großvater nachgiebig und sandte nach uns, denen nun keine Zeit mehr blieb, die an ihm begangene Täuschung aufzuklären. So wurdest du denn als das Kind seines Sohnes und der Erbe seines Titels bei ihm eingeführt. Seit jener Stunde kann ich keine Ruhe mehr finden. Die Lüge, welche ich vor Gott und der Welt auszusprechen gewagt, noch dazu im Angesicht eines sterbenden Vaters –, das Unrecht, welches dadurch deinem Bruder angetan worden, diese Verletzung der natürlichen Pflichten und der rechtlichen Ansprüche –, die Kämpfe, welche ich mit meinem Gewissen auszufechten habe –, dies alles wurde mir zum schwersten Vorwurf, heraufbeschworen nicht nur durch Lasterhaftigkeit und Meineid, nein, auch durch Gotteslästerung.‹
    ›Gotteslästerung!‹
    ›Jawohl. Jede weitere Stunde, da du dich weigerst, die Mönchskutte zu nehmen, ist ein Frevel an Gott. Noch vor deiner Geburt habe ich dich ihm geweiht als einzig mögliche Sühne für mein Verbrechen. Noch während ich dich unterm Herzen trug, wagte ich Gottes Vergebung einzig in Ansehung deiner künftigen Fürbitte als eines Dieners der Kirche zu erflehen. Ich vertraute auf die Kraft deines Gebets, noch ehe du überhaupt sprechen konntest. Ich nahm mir vor, meine Entsühnung in die Hände jenes Menschen zu legen, der, indem er ein Kind Gottes würde, mein Vergehen aufwiegen sollte, welches ihn zum Kind der Sünde gemacht. Ich sah mich schon vor dir im Beichtstuhl knien –, vermeinte schon deine Stimme zu hören, wie sie mich kraft der Vollmacht der Kirche und im Auftrag des Himmels von meiner Todsünde lossprach. Ich sah dich schon an meinem Sterbelager –, fühlte dich das Kruzifix auf meine kalten Lippen pressen, sah dich gen Himmel weisen, wo dir, so erhoffte ich, durch mein Gelübde schon ein Platz gesichert war. Jawohl, so habe ich mich gemüht, dir schon vor deiner Geburt den Aufstieg in den

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