Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hatten.
Von diesem Wagen aus hatte Emilia auf das Land ihres Vaters geblickt und es langsam vorbeigleiten sehen. Sie hatte Kirsten gegenüber die Bemerkung gemacht, daß es dermaßen seltsam, ja verblüffend sei, sich wieder in Jütland zu befinden – an ebendem Ort, den sie verlassen und für lange Zeit nicht wiederzusehen geglaubt hatte –, daß es ihr fast vorkäme, als würde sich die Zeit selbst über sie lustig machen.
Kirsten hatte gegähnt und gemeint: »Das ist die Hauptfreude der Zeit, Emilia: Spott. Wenn du das vorher noch nicht gewußt hast, dann weißt du es jetzt.«
Entlang der einen Seite der Grenze erstreckte sich eine breite Reihe Buchen. Ihre Blätter durchliefen schon jene schwer faßbare Veränderung, die man fast nicht beschreiben kann und die doch plötzlich im Septemberlicht da ist und den kalten Winter ankündigt. Als Emilia auf diese Bäume blickte, zwischen denen sich der Nebel noch hielt, und die Augen nicht von ihnen lassen konnte, drängte sich ihr eine Erinnerung auf, die schon so lange vergraben war, daß selbst jetzt, als sie ihr wieder in den Sinn kam, ein Teil davon verschwommen blieb.
Sie ist mit ihrer Mutter Karen zusammen. Sie gehen unter den Buchen die Straße hinunter, und es ist zu Beginn des Herbstes, denn Karen trägt einen grauen Wollschal. Emilia ist noch klein, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt.
Sie haben ein Ziel, das nicht allzuweit entfernt ist – den größten Baum. Als sie dort ankommen, kauert sich Karen hin und nimmt Emilias Hand, und dann schieben sie gemeinsam die frisch gefallenen Blätter beiseite, bis ihre Hände auf die weiche Erde darunter stoßen. Diese ist trocken, leicht und kratzig von alten Bucheckerschalen. Und an dieser Stelle liegt etwas begraben. Karen flüstert: »Da!«, und Emilia blickt hinunter. Was immer es ist, was dort hingelegt worden ist, schimmert plötzlich im kalten Sonnenlicht.
An mehr konnte sich Emilia nicht erinnern. Sie versuchte sich ganz scharf auf den Augenblick der Entdeckung zu konzentrieren, als könne sie den Gegenstand im Boden dadurch plötzlich erkennen. Sie sah Karen neben sich, hörte ihre Stimme und erinnerte sich sogar an den weichen grauen Schal. Doch als sie auf die Erde und die zur Seite geschobenen Blätter blickte, fiel ihr nicht ein, was dort gewesen war.
Emilia bekommt auf Boller ein Zimmer nach Osten – wo das Gut ihres Vaters liegt. Sie kann es zwar nicht sehen, doch hat es etwas Beängstigendes, zu wissen, daß dort, wo der Park aufhört, die Obstplantagen der Tilsens beginnen. Emilia schaut immer wieder stundenlang zum Horizont und stellt sich die großen Bäume als Wachen vor, die sie vor Johanns und Magdalenas Augen verborgen halten. Sie hat das Gefühl, sie würde bei deren bloßem Anblick versteinern und könnte sich nicht rühren oder sprechen.
Doch Kirsten hat ihr gesagt, daß die Nachricht ihrer Anwesenheit auf Boller schon Ellen Marsvins Nachbarn erreicht haben wird. In Jütland verbreiten sich die Neuigkeiten entlang der sandigen Wege mit den Kesselflickern, Köhlern und Hufschmieden. »Und daher«, meinte Kirsten, »wird es das beste sein, deiner Familie einen Besuch abzustatten. Sie müssen mich empfangen! Sie würden es nicht wagen, es abzulehnen. Und du begleitest mich. So können wir herausfinden, was dort vor sich geht und wie es um Marcus bestellt ist.«
Marcus nach Boller zu holen, für ihn zu sorgen, seine Aufgaben zu überwachen und ihn Magdalenas Einfluß zu entziehen ist ein schöner Traum, den Kirsten (die Kinder eigentlich nicht mag und wenig Verständnis für die von ihnen verursachte Unruhe aufbringt) um Emilias willen geträumt hat. Diese empfindet Kirsten gegenüber Dankbarkeit, um derentwillen aber auch Besorgnis. Die Angst um Marcus hat sie ständig gequält, seit sie von zu Hause fortgegangen ist. Es wäre für sie eine Freude und Erleichterung, ihren Bruder hier bei sich zu haben. Sie hält es jedoch für ein unmögliches Unterfangen, Marcus von seinem Vater und seinen Brüdern wegzuzaubern – für ein Unterfangen, das nur in Kirstens mit endlosen Plänen und Listigkeit vollgestopftem Kopf Realität besitzt.
Und da ist noch etwas anderes. Emilia weiß auch, daß sich ein Teil von ihr eine Zukunft weit weg von Jütland vorgestellt hat, eine Zukunft als Frau des Lautenisten. Und wie könnte Marcus Tilsen da hineinpassen? Wenn sie und Kirsten wirklich Marcus’ »Mütter« werden, dann müssen sie es für immer bleiben. Ob einmal der Tag kommen wird, an dem sie
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