Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
für König Christian in neue Bahnen zu lenken. Doch außer ein paar Dalern Bezahlung haben sie dafür keine Belohnung bekommen, trotz aller königlichen Phrasendrescherei über Reichtum und Wohlstand. Und wovon sollen die Witwen jetzt leben? fragt Martin Møller jeden, der ihm zuhört. Sie versuchen in der gefrorenen Erde Zwiebeln und Kohl anzubauen. Sie gehen in die Berge und sammeln Brennholz. Ihre Kinder stehlen und betteln. Sie haben nichts.
Und aus Kopenhagen kommt keine Nachricht, kein Gesandter. Jeden Morgen blickt Martin Møller aus dem Fenster seines Hauses und hofft, einen Fremden in einer Livree und Stiefeln aus spanischem Leder kommen zu sehen. Er hofft außerdem, in der Satteltasche des Fremden ein Stück Papier mit dem königlichen Siegel, dem schriftlichen Versprechen einer Entschädigung zu entdecken oder, besser noch, einen schweren Wagen, der hinter ihm herholpert, mit Säcken voller Geld, Wolle und Tuch, Mehl und Wein, Öl und Zucker.
»Die kleine Ratte ist irregeführt«, meinen die Mütter und Witwen untereinander. »Niemand wird kommen! Dem König ist es egal, ob wir tot oder lebendig sind. Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn wir in Dänemark selbst wären, doch Leid in Norwegen läßt ihn unberührt.«
Doch Møller will, daß man sich an diese Leute erinnert. Und wer soll Fürsprache für sie einlegen, wenn nicht er? Es ist, als habe er alle Worte und den ganzen Atem seiner kleinen Gestalt für diese Stunde aufgehoben. Er eilt mit seiner von der kühlen Herbstluft leicht geröteten Nase von Haushalt zu Haushalt und erzählt den Töchtern, Witwen und zerlumpten, heimatlosen Kindern, daß er selbst nach Rosenborg reisen würde, wenn sich dies als notwendig erwiese (und das trotz seiner Angst vor dem Meer), inzwischen aber nach einem Weg suche, dem König einen Brief zu schicken.
Und in diesem schüttet er sein Herz aus. Er beschreibt die Schrecknisse, deren Zeuge er am Eingang der Mine geworden ist, und das Elend und Leid danach. Er teilt dem König mit, daß man melancholisch wird, wenn man immer nur Zwiebelsuppe ißt, und daß Melancholie in kurzer Zeit zur Verzweiflung führt. Wenn Ihr nicht gekommen wärt und uns Hoffnung gemacht hättet, Sir, schreibt er, dann hätten wir bestimmt weitergelebt wie bisher und nicht geklagt. Ihr seid aber gekommen! Ihr habt uns emporgehoben! Ihr habt uns Visionen von dem geschenkt, was sein könnte. Und daher müssen wir uns nun in unserer Erbärmlichkeit mit unserem Flehen an Euch wenden …
Er bittet den König, ins Numedal zurückzukehren. Er beschreibt sich, wie er am Fenster steht und nach dem Mann mit den Stiefeln aus spanischem Leder Ausschau hält, der aber nie eintrifft. Er spricht davon, wie klein er hinter dem Fensterbrett ist. Er sagt, er sei ein Niemand, ein armer Pfarrer, ein einsamer Mann, eine Ratte. Und dennoch … , schreibt er, wage ich es, meinen König direkt anzusprechen, wage ich zu hoffen, daß er mir sein Ohr leiht, und wage ich zu hoffen, daß er mein Gebet erhört.
Die Wandlung Martin Møllers wird zum Gesprächsthema im Tal, und seine Gottesdienste sind jetzt besser besucht als zuvor. »Ratten können ganz schön mutig sein!« sagen manche lächelnd. »Das sollte man nicht vergessen!«
KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
Wir sind auf Boller, im Haus meiner Mutter.
Alles auf der Welt ist auszuhalten, nur nicht die Abwesenheit meines Geliebten. Otto ist nach Schweden verbannt worden, und in meinem Kopf ist bloß noch Raum für Pläne und Manöver, um ihn aus dem Exil wieder in mein Bett zu bringen oder, wenn das nicht möglich ist, wie ich dann Dänemark für immer verlassen und zu ihm nach Stockholm gehen könnte. Diesen Machenschaften widme ich meine Tage und Nächte, meine Spaziergänge, meine Gebete und meine Träume. Wenn ich nähe, webe ich sie als Muster ein: die Blüten meiner Schlauheit.
Ich folgere so: König Gustav Adolph von Schweden, der größte Feind meines Mannes, würde es sich bestimmt etwas kosten lassen, Informationen über Angelegenheiten des dänischen Hofs zu bekommen, insbesondere aber Enthüllungen und Offenbarungen über die mutmaßlich schlechte Finanzlage des Landes. Und da ich ja weiß, daß sich Christian ständig mit dem verfluchten Thema Geld beschäftigt, bin ich mir sicher, daß sich in seinem Besitz private Papiere befinden, die diese Angelegenheit auf höchst interessante Weise betreffen und aus denen sein großer Feind nach Belieben Vorteil ziehen könnte – als Gegenleistung für
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