Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wird. Und diese Knaben, die aus einer wilden, unzivilisierten Gegend kommen, wo Männer Äffinnen in Käfigen halten sollen und vor aller Augen mit ihnen kopulieren und wo magische Frauen als Schlangen in die Scham junger Mädchen gleiten, um ihnen zu zeigen, was Vergnügen ist, nun, ich glaube nicht, daß sich Samuel und Emmanuel weigern würden, die Beinahe-Königin von Dänemark zu beglücken. Ich würde vielmehr meinen, daß sie diese besondere Pflicht allen anderen vorziehen.
Emilia hat nach Jütland eine Henne mitgenommen!
Diese Henne, die Gerda heißt, war die Geißel unserer Reise. Sie machte sich ständig aus Emilias Armen frei, um im Fischwagen herumzuflattern, gackerte und bespritzte uns überall mit ihren scheußlichen, grauen Exkrementen. »Emilia«, sagte ich schließlich, »ich bitte dich inständig, die Klappe dieses stinkenden Wagens zu öffnen und die Henne in die Nacht hinauszuwerfen!« Sie wollte aber nicht. Sie erzählte mir statt dessen, wie sie diese Gerda in ihrem Zimmer gesund gepflegt hatte – im Gedenken an ihre Mutter, die genau dies auch einmal gemacht hatte – und sie daher nicht »auf einer einsamen Straße, die sie nicht erkennen würde«, aussetzen wolle.
»Meine Liebe«, sagte ich, »es ist eine Henne ! Hennen erkennen nichts! Sie wissen nicht, ob sie in Odense oder Pommern sind! Sie wird Körner und Wasser finden, und das ist alles, was ein Huhn braucht.«
»Nein«, erwiderte diese sentimentale Emilia. »Gerda kennt mich, und sie stirbt, wenn ich mich nicht um sie kümmere.«
Hätte jemand anders als Emilia beschlossen, ein lebendes Huhn auf diese lange und schreckliche Reise nach Jütland mitzunehmen, dann hätte ich das Tier eigenhändig auf die Straße geworfen oder ihm den Hals umgedreht, es gerupft und am Wegesrand gebraten. Doch aus irgendeinem Grund kann ich Emilia nichts abschlagen. Also ertrug ich die Henne. Ich sah, wie ihr Emilia den Kopf streichelte, um sie zu beruhigen. Wenn wir anhielten, damit sich die Pferde ausruhen konnten, bekam sie Wasser. Und lange Zeit schlief sie in Emilias Röcke gewickelt, als wäre sie ein Kätzchen oder gar ein kleines Kind, das es sich auf dem Schoß seiner Mutter gemütlich macht.
Nun hat sie ein eigenes kleines Haus oder besser einen Verschlag im Hof. Doch wenn Emilia und ich spazierengehen, was wir oft tun (denn das ist alles, was man in Jütland tun kann: herumlaufen und sich anschauen, was die Natur zu bieten hat), begleitet uns Gerda. Sie läuft anmutig neben unseren Füßen her und weicht nie weit von Emilias Seite. Sie ist so zahm und domestiziert, daß ich behaupten möchte, sie ließe sich von Emilia auch an der Leine führen. Ich glaube, sie hat vergessen, was sie ist.
Wir sprechen nur selten über Peter Claire.
Das Notenblatt mit den Abschriften aus dem Brief der Gräfin an ihn habe ich mitgenommen, doch noch keinen Gebrauch davon gemacht. Sollte es Emilia jemals einfallen, mich verlassen und um des Lautenisten willen nach Rosenborg zurückkehren zu wollen, werde ich es ihr zeigen und ihr sagen, daß sie einer grausamen Täuschung unterliegt.
Doch ich zweifle, daß dieser Tag je kommen wird. Emilia fragt mich nicht, was ich gesagt habe, als ich ihn in der Nacht unserer Abreise anschrie. Ich denke aber, daß sie die Worte verstanden haben muß, doch sie schweigt sich darüber aus, und so antworte ich mit einem ebensolchen Schweigen.
Die Person, über die wir am meisten sprechen, ist ihr kleiner Bruder Marcus, der jetzt zum Greifen nahe bei uns ist und den wir Johann Tilsen wegnehmen und zu uns holen müssen. Auch für Marcus haben wir Pläne! Ich habe beschlossen, ihn als mein Kind aufzuziehen und ihn zum Spielkameraden und Freund meines Babys zu machen, wenn dieses auf der Welt ist, so daß er wie ein Bruder zu ihm sein wird. Und wenn Otto zu mir kommt und ich meine Mutter weggeschickt habe, werden mein Geliebter, ich, Emilia, Marcus und das Kind eine wunderbare Familie sein, die ich immer bei mir behalten werde, und dann bin ich endlich glücklich und zufrieden.
DIE GRENZE
Das letzte Stück ihrer Reise nach Boller, das sie im Morgengrauen zurücklegten, als die Sonne langsam durch den Frühnebel brach, hatte Kirsten und Emilia am Gut der Tilsens entlanggeführt.
Der Fischwagen war gegen eine wacklige schwarze Kutsche ausgetauscht worden, die muffig und ungewohnt roch wie ein vergessener Salon, in dem einst die Alten gelebt, Mäuse in die Falle gelockt und ihre letzten Sommer mit Lavendel versüßt
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