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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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sich zwischen Marcus und Peter Claire entscheiden muß?
    Über das Thema Peter Claire bewahrt sie Schweigen, sogar sich selbst gegenüber.

WAS DIE WALE BETRIFFT
    Im Hof von Rosenborg findet ein seltsames Schauspiel statt.
    Der König hat angeordnet, daß ein großer Stein dorthin gebracht und an den abgestellten Brunnen gelehnt wird. Die Diener beklagen sich untereinander über die Stillegung des Brunnens. Die Frauen jammern, daß ihnen das Geräusch des fließenden und spritzenden Wassers fehlt, »das so fröhlich war und einem an dunklen Tagen richtig das Herz erfreuen konnte«. Ein Teil der Männer murrt, man könne nun »nirgendwo mehr pinkeln, wenn man spätnachts heimkehrt und das Bedürfnis dazu verspürt«, denn in den Eingängen bekomme man schmutzige Stiefel und ziehe Ungeziefer und Fliegen an. Und sie knurren, der König treffe nur noch schlechte Entscheidungen.
    Der König hört nichts von all dem Meckern (oder aber, falls doch, steht ihm gleichgültig gegenüber). Er hat sich mit seinem holländischen Steinmetz beraten und einen Satz schöner Meißel erstanden. Und nun kann man ihn vor dem Steinblock knien und mühsam Buchstaben und Zahlen in einer Kalligraphie einritzen sehen, die der, wenn er mit einem Federkiel auf Papier schreibt, in nichts nachsteht. Und alle Welt scheint zu wissen, was er schreibt: Er meißelt Kirstens Namen ein und das Datum, an dem er sie weggeschickt hat.
    Er mag es nicht, wenn man ihm bei der Arbeit zusieht. Die Diener bringen ihm Limonade und ziehen sich wieder zurück. Doch er wird von Mansardenzimmern und halboffenen Türen aus beobachtet. Seine eigenen Kinder blicken aus dem Fenster und wünschten, er würde nicht auf dem Boden knien. Viele von ihnen sind alt genug, um zu wissen, daß Demütigungen verborgen und nicht öffentlich gemacht werden sollten und daß Traurigkeit am besten allein im Zimmer oder an einem wilden Ort zu ertragen ist, wo die Wolken die Erde mit Mustern verzieren und der Wind alle menschlichen Geräusche erstickt.
    König Christian spricht mit niemandem und blickt nur selten einmal von seiner Arbeit auf. Bestimmt sieht er die Kinder an den Fenstern nicht. Es ist ganz so, als wäre er mit einem Kunstwerk beschäftigt und das Bearbeiten des Steins mit dem Meißel das einzige, was im Königreich seine Zeit verdient. Doch nach ein paar Tagen läßt er Peter Claire holen und neben sich niederknien. Und dann teilt ihm der König mit, daß die Aufgabe beendet ist.
    Gemeinsam blicken die beiden Männer auf den Stein.
    »Das ist die Summe von allem!« sagt Christian. »Das ist das Ende!«
    Peter Claire nickt. Er sagt nicht, daß es auch sein Ende ist, daß ihn der Verlust Emilias all seiner Pläne und Träume beraubt hat. Er sagt vielmehr, daß die Schrift im Stein so schön sei, daß es der König, wenn er nicht der König wäre, bestimmt als Beruf ausüben könnte, Gravuren auf Grabsteinen oder lateinische Sprüche über Anstaltsportalen anzubringen.
    Zum erstenmal seit langem lächelt der König. »Ja«, meint er, »wenn ich nicht der König wäre!«
    Dann legt er die Meißel beiseite. Er klopft sich den Staub von den Händen, die von der Arbeit rauh und voller Blasen sind. Er sieht sich um, und sein Blick bleibt auf dem sonnenbeschienenen Kopfsteinpflaster und an einer grünlichen Stelle haften, wo das Wasser über den Rand des Brunnens gespritzt war. Er sieht verdutzt aus, als sehe er all dies zum erstenmal oder zumindest mit neuen Augen und versuche sich zu erinnern, was es einstmals bedeutete.

    Christian bleibt länger als eine Woche im Bett. Er sieht an seinen Uhren, daß die Zeit verrinnt, nimmt es aber nicht wirklich wahr, weil ihm jede Minute ganz genauso wie die vorherige erscheint.
    Kirsten erfüllt seine Seele. Da, wo einst Gott war, ist jetzt Kirsten.
    Sie lacht und tanzt, zecht und kreischt, rollt auf einem Holzstapel herum, stampft mit den Füßen auf und brüllt, blutet das Bett voll. Sie ist eine weiße Brust, ein gewölbter Magen, ein blutroter Mund. Sie ist Vergangenheit und Gegenwart, Alleinsein und Fieber, Einsamkeit und Schlaf.
    Dem König wird Essen gebracht. Er klagt, er brauche keins. Er nimmt Kirsten in sich auf und Kirsten ihn. »Und am Ende«, flüstert er laut, »gibt es nichts und niemanden mehr.«

    Als er sein Leben wiederaufnimmt (allerdings nur ungeschickt und stolpernd wie ein Invalide) kehren seine Gedanken zu seinem Geldmangel zurück. Ihm ist nochmals erzählt worden, daß man mit Walfängern ein großes Vermögen

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