Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hatte er gesagt, »wir müssen respektieren, was uns das Land sagt. Die logische Achse, die logische Sequenz der Gebäude ist Richtung Norden, und deshalb muß dort der Höhepunkt liegen. Dort muß der König wohnen. Dahinter darf nichts mehr sein, nur das Licht auf dem Wasser, das Diminuendo und dann Stille …«
Im Frederikssund entluden die Schiffe Steine aus Elsinore, Kalk aus Mariager, Holz, Kalkstein und Marmor aus Gotland und Norwegen.
König Christian ging immer wieder zum Hafen hinunter und blickte von oben auf die Kais mit den tausend Wagen und Waggons, die bereitstanden, um die einzelnen Teile seiner Vision zu der Stelle zu bringen, wo sich diese vom Boden erheben würde.
Eines Nachmittags fuhr er vom Frederikssund auf der Ladefläche eines Wagens mit, der Kupferplatten geladen hatte. Er legte sich auf das Metall, das noch glänzte und vom Wetter unverändert war, blickte zum Himmel hinauf und sah vor sich, wie es auf die Platten regnete, die Sonne auf sie schien und Schnee auf sie fiel. Er stellte sich vor, wie die blaugrüne Farbe des Kupfers im Innern nur darauf wartete, mit ihrer eigenen Alchimie zu beginnen.
So war ihm die Idee zu dem gekommen, was Kirsten so an Frederiksborg geliebt hatte: seine wilde Farbenvielfalt. Er hatte zu Hans Steenwinckel gesagt: »Ein Schloß ist nicht Bestandteil der Natur. Es muß nicht ausdrücken, was schon da ist, sondern was ich in meinem Kopf sehe .«
Der Holländer hatte gelächelt und gefragt: »Und was seht Ihr da, Sir?«
Er sah da ein Rot, aber kein Ziegelrot, sondern ein tieferes, mehr ein Scharlach- oder Purpurrot. Er wollte zwar die Portale und Nischen mit Statuen geschmückt haben, sah aber nicht, daß diese weiß blieben. »Sie werden aus dem Stein herausgearbeitet, Hans«, meinte er, »doch das ist erst der Beginn ihres Lebens.«
Und so bekam Frederiksborg, als es in seiner ganzen Großartigkeit entstand, auf allen Oberflächen ein zusätzliches Strahlen. Die Wände waren rot wie Klatschmohn oder cremigweiß wie Lilien; goldene Monogramme sprenkelten wie Pollen die Eingänge, Fenster und Bögen. Und was die Statuen anging: Botschafter aus Italien, Frankreich und Spanien erklärten, sie hätten noch nie zuvor derart phantastische Figurengruppen gesehen, und der englische Botschafter (der an die grauen Steingänge von Whitehall gewöhnt war) gab im privaten Kreis zu, so geblendet von ihnen zu sein, daß er jedesmal die Hand vor die Augen legen mußte, wenn er an ihnen vorbeiging.
Denn jede einzelne Statue war ein Juwel. Wenn die Sonne um die Ecke kam und auf das Lapislazuliblau, Smaragdgrün, Topasgelb und Rubinrot schien, ging ein blendendes Strahlen von ihnen aus – so wie es König Christian geplant hatte – und zeugte von etwas Pompösem und Kühnem im dänischen Charakter, das vorher noch nie ausreichend wahrgenommen worden war. Niemand konnte genau sagen, was dieses »Etwas« ausdrückte, bis ein scharfsinniger französischer Botschafter schließlich erklärte: »Was von den Lippen – ja sogar von den vergoldeten Ärschen – dieser Skulpturen ausgeht, ist ein unflätiges Lachen.«
Der König steigt in ein Boot, rudert auf den See hinaus und blickt zurück, um seine Vision zu begutachten.
Bis zur Fertigstellung hatte es Jahre gedauert. Hans Steenwinckel starb und wurde von seinem Sohn Hans dem Jüngeren ersetzt, der streitsüchtig und eitel war. Das klatschmohnrote Backsteinmauerwerk muß noch immer ständig neu gestrichen werden, um gegen den Neid der Winter anzugehen, die es lieber wieder zu seinem ursprünglichen Zustand verblassen lassen würden.
Christian läßt das Boot ziellos auf den kleinen Wellen tanzen. Sein Blick ruht auf dem großen Schloß. Es ist auch jetzt noch gewaltig. Auch jetzt noch ist sein Spiegelbild im Wasser atemberaubend. Und noch immer berührt ihn sein nördliches Crescendo. Etwas jedoch hat sich geändert seit jenen fernen Tagen seiner Träume und Pläne: Er weiß nicht mehr, wofür Frederiksborg erbaut wurde.
Er ruft sich ins Gedächtnis zurück, daß es eine Vision innerhalb einer anderen Vision gewesen war – von Dänemark, das seinen alten, mit Gold gekrönten Kopf hochhält. Doch wie steht es jetzt mit diesem Ideal?
Er fühlt sich seekrank. Er spürt in dem Wind, der den See auf-wühlt, einen Todeshauch.
An jenem Abend, als ein Unwetter aus dem Norden den Regen an sein Fenster wirft, arbeitet der König bis spät in die Nacht hinein und versucht Ordnung in seine Gedanken zu bringen, indem er seit
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