Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
langem fällige Briefe beantwortet.
Darunter ist auch der Brief von Martin Møller, in dem dieser König Christian bittet, die Leute aus dem Tal des Isfoss noch vor dem Winter zu retten. Und Christian stößt wieder auf den Satz Ihr habt uns Visionen von dem geschenkt, was sein könnte und fühlt sich von neuem davon bewegt. Er gibt sich einer Betrachtung darüber hin, daß ihn die Werke der Menschen, trotz seines Wissens darum, welch trauriges Ende sie schließlich nehmen können, immer noch mit einer hartnäckigen, unvernünftigen Freude erfüllen. Es ist, als wären die Männer noch Knaben, die sich eine schöne Kalligraphie aneignen, oder als wären sie das Wild im Wald, das die Hufe hochwirft, wenn es den Frühling riecht. Er lächelt über das, was Møller geschrieben hat, greift dann rasch nach einem Federkiel und schreibt (in seiner noch immer erlesenen Handschrift):
Lieber Herr Møller,
oh, könnte ich nur zu dem Tag zurückkehren, an dem ich meine Maus Kirsten kennenlernte!
Oh, könnte ich meinem Herzen jene erste Vision von Frederiksborg zurückbringen!
Herr Møller, alles Leben ist ein Sichauflösen auf die Katastrophe hin. Darin, daß wir diese unvermeidliche Katastrophe akzeptieren, liegt unsere einzige Chance, sie zu überleben und uns aus dem großen nördlichen Schatten all dessen, was wir nicht erreichen konnten, in das klare Wasser jenseits davon zu begeben. Und so noch einmal beginnen. Und noch einmal …
Der König weiß, daß dieser Brief nicht fertig ist, doch diese ersten wenigen Sätze scheinen ihn schon erschöpft zu haben, als habe dieses »Noch-einmal-Beginnen« Gestalt und Form angenommen und sei ein Berg geworden, den er nicht erklimmen, oder ein Gletscher, den er nicht überqueren kann.
FRU MUTTERS BETT
Der Geist der Meuterei unter den Musikern ist abgeflaut.
Auf Frederiksborg sind sie besser untergebracht, und zwar in Gebäuden mit Schieferdächern im Mitteltrakt, wo jedem von ihnen zwei Räume zugewiesen worden sind anstatt des einen kläglichen Zimmers über den Ställen von Rosenborg.
Sie spielen hauptsächlich in der Kirche, hoch oben auf der Empore, wo das Winterlicht durch die hohen, verzierten Fenster strömt. Dort sind sie um die schöne Orgel versammelt, die für den König im Jahre 1616 von seinem Schwager Esaias Compenius von Braunschweig gebaut worden ist. Und ihnen kommt es so vor, als legitimiere sie diese Orgel, als seien sie endlich an einem Ort, wo der Musik öffentlich Reverenz erwiesen wird. Die Demütigungen des Kellers geraten langsam in Vergessenheit, und da die Akustik in der Kirche so gut ist, bezaubert sie wieder einmal ihr eigener Klang.
Jens Ingemann, der schon viele Winter auf Frederiksborg verbracht hat, die große Halle voller tanzender Menschen erlebt und Galliarden für zwei französische Könige dirigiert hat, gefällt das Gefühl des Sichabhebens, das ihm die Empore gibt. Da man ihn hier mehr sieht als auf Rosenborg, kommt er jetzt mit einer eleganten neuen Kambrikjacke und einem ordentlichen Schnitt seines weißen Haars zu den Darbietungen. Wenn er auch noch ein strenges Auge auf Rugieri und Martinelli hat und mißtrauisch auf Krenze blickt, so ist seine Gereiztheit im ganzen gesehen doch nicht mehr so ausgeprägt. Wie seine Musiker merkt er, daß das Spiel seines kleinen Orchesters hier eine schmerzliche Süße hat, für die jeder Zuhörer empfänglich ist.
Es ist nicht gerade eine Saison für Unterhaltungen. Der König ist dafür nicht in der richtigen Stimmung. Er zitiert die Musiker jedoch sehr oft noch spät in der Nacht zu sich, und dann spielen sie für ihn allein in dem Zimmer, wo er gerade sitzen und ihnen zuhören möchte. Und er gratuliert ihnen dann. Er sagt, sie würden es, wenn er sich nicht irre, zu immer größerer Vollkommenheit bringen.
Peter Claire schreibt an seinen Vater, um ihm von der Pracht Frederiksborgs und der erlesenen Akustik in der Kapelle zu erzählen ( Ich wünschte, Du könntest es hören, Vater, denn ich weiß, daß Du darüber staunen würdest! ) und nach George Middletons Gesundheitszustand zu fragen. Emilia erwähnt er nicht, sondern fügt am Ende des Briefes nur hinzu: Die Frau des Königs ist nach Jütland gegangen, und man wird ihrer hier in diesem Winter nicht ansichtig werden.
Er hat von Emilia keine Antwort auf seinen leidenschaftlichen Brief bekommen.
Er hofft jeden Tag aufs neue, daß noch eine eintrifft, und wird immer wieder enttäuscht. Er will aber einfach nicht glauben, daß sich
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