Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Emilias Gefühle jetzt, da sie nicht mehr bei ihm ist, auf so schreckliche Art verändert haben. Er hatte in Emilia Tilsen einen Menschen gesehen, der sich von dem Weg, den sie für richtig hielt, nicht abbringen lassen würde. Er hatte unter ihrer freundlichen Schale Zielstrebigkeit und eine wilde Entschlossenheit wahrgenommen. Ihr Verhalten im Hinblick auf die Henne – wie sie diese aus dem Keller holte und in ihrem Zimmer gesund pflegte – hatte ihn darin bestätigt. Und wenn ihr Herz wirklich sprach, dann würde sie es doch nicht verraten? Etwas anderes kann er sich nicht vorstellen. Er weiß, daß er sich nicht irrt.
Es herrscht aber immer noch Schweigen.
Inzwischen ist noch ein weiterer Brief eingetroffen – von Gräfin O’Fingal.
Als Peter Claire liest, daß Francesca und ihr Vater Kopenhagen einen Besuch abstatten wollen, greift er sich gedankenverloren ans linke Ohr, als erwarte er dort noch das Schmuckstück vorzufinden, das die Gräfin von den Zigeunern erhalten und ihm als Liebespfand gegeben hatte. Als ihm dann einfällt, daß er den Ohrring abgenommen und Charlotte geschickt hat, fühlt er sich erleichtert. Wenn seine Liebesaffäre mit Francesca auch zu einer Zeit stattfand, als er Emilia noch nicht kannte, empfindet er deswegen doch so etwas wie Schuld, als sei es ein Verrat gewesen, und zwar ein teurer, der ihm am Ende seine ganzen Pläne durchkreuzen könnte.
Er erkennt aber auch, daß sich in diese Gewissensbisse eine verführerische Erinnerung an die Gräfin mischt – an ihren großen, geschmeidigen Körper, ihr wildes Haar, ihr Lachen, das sie dem Wind entgegenschleuderte, an die Freuden, die sie ihm gewährte. Alldem ist er etwas von sich schuldig. Er hat das Gefühl, ihr verpflichtet zu sein, und meint, daß dies immer so gesehen und anerkannt werden muß. Wenn ihn sein Herz auch woandershin geführt hat, so darf er doch nicht, beschließt er, vor einem Treffen mit Francesca davonlaufen. Vielmehr muß er sich ihr gegenüber so ehrenhaft wie möglich verhalten.
Und so fängt er eines Nachts, als er mit dem König allein ist und im fast dunklen königlichen Schlafgemach Laute spielt, von der Papierherstellung und Francesco Ponti an.
»Ich kann mir italienisches Papier nicht leisten!« meint der König.
»Warum, Sir? Ich habe Signor Pontis Papier gesehen und würde sagen, daß es das beste Europas ist.«
»Ich kann mir überhaupt nichts leisten: kein Papier und keine neuen Papiermühlen. Ich kann es mir sogar kaum leisten, Euren italienischen Herrn zum Abendessen einzuladen.«
Peter Claire lächelt, und der König sieht in diesem Lächeln eine Art Widerlegung. Er steht vom Bett auf und geht zu seinem Arbeitszimmer nebenan, von wo er mit einem Stapel Dokumenten zurückkommt, die er Peter Claire auf den Schoß wirft. »Lest!« sagt er. »Darin steht alles: was ich schulde, was ich verloren habe, wovon ich träume und nicht haben kann. Noch nie zuvor ist ein König durch Armut so gedemütigt worden wie ich. Und woher soll Hilfe kommen?«
Peter Claire blickt auf die Papiere, die die Handschrift des Königs tragen, und sieht viele Spalten Zahlen. Neben jeder steht der Name einer Fabrik und das Produkt, das sie herstellt: Seide, Leinen, Zwirn, Knöpfe, Spitze, Holz, Farbe, Politur, Lack, Elfenbein, Wolle, Blei, Schiefer, Zinn, Hanf, Teer … und so fort. Es ist alles aufgeführt, was ein Land braucht, um in der Welt des Handels zu gedeihen. Die Liste endet mit einem kunstvollen Minuszeichen vor einer so kolossalen Summe von Dalern, daß Peter Claire darauf starrt und sich fragt, ob diese wirklich mit den Zahlen darüber im Zusammenhang steht oder nicht vielmehr durch einen merkwürdigen Zufall auf das Blatt gekommen ist – aus einem anderen mathematischen Bereich, in dem das Kunststück vollbracht wird, aus unerfindlichen Gründen von dem einen zum anderen Dokument zu fliegen.
Der König nimmt die Ungläubigkeit des Lautenisten wahr und meint: »Seht Ihr? Und nun wollt Ihr noch italienisches Papier hinzufügen!«
Peter Claire blickt auf. Er will gerade etwas sagen, als der König meint: »In den ehemaligen Gemächern meiner Mutter, die wir Fru Mutters Sal nannten, steht ein Silberbett. Es war ihr Hochzeitsbett, als sie den König, meinen Vater, heiratete. Und nun lasse ich dieses kostbare Stück abholen, einschmelzen und Münzen daraus machen. Ich muß das Bett beschlagnahmen und zerstören, in dem ich gezeugt wurde! Seht Ihr nun, zu welchen verzweifelten Maßnahmen ich greifen muß?
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