Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
»was für ein Leben wir hier führen, die meiste Zeit im Keller, im Dunkeln. Heute wird so ein Tag sein. Man kann es niemandem verübeln, wenn er sich nach Licht sehnt.«
»Mir macht die Dunkelheit eigentlich nichts aus«, meint leise lächelnd der Deutsche Krenze. »Ich glaube schon immer, daß das Leben nur eine Vorbereitung auf den Tod ist. Und bereite ich mich im Dunkeln und in der Kälte nicht besser darauf vor?«
»Krenze tut so, als mache es ihm nichts aus«, schaltet sich Rugieri ein. »Wir glauben ihm das aber nicht. Wenn ich im Schein der Lampen in unsere Gesichter sehe, fühle ich mich unserer Gruppe verbunden, verbunden durch Leiden, denn das ist es, was ich bei jedem einzelnen von uns wahrnehme. Das stimmt doch, nicht wahr, Martinelli?«
»Ja«, erwidert Martinelli. »Und wir schämen uns dessen nicht, weil wir wissen, daß selbst so große Männer wie Dowland diese Bedingungen schwierig fanden und er seine Rückkehr hinauszögerte, als er Urlaub hatte. Er gab vor, sein Schiff aus England habe wegen Sturm und Frost umkehren müssen. Er dachte daran, wie wir hier die Zeit verbringen …«
»Er konnte sich nicht über sein eigenes beklagenswertes Leben erheben, das ist alles!« meint Krenze. »Er schrieb gute Musik, konnte aber für seine Seele keinen Gebrauch davon machen. In dieser Hinsicht hat er sich vergeblich bemüht.«
»Ach kommt!« schreitet Jens Ingemann aufgeregt gestikulierend ein. »Warum halten wir uns mit dem auf, was schlecht ist? Armer Mr. Claire! Warum erzählen wir ihm nicht, wie schön wir spielen? Ihr wißt doch, daß selbst die Hennen oft still sind, vollkommen still, als wären sie in Trance, wenn wir musizieren …«
»Es sollte dort überhaupt keine Hennen geben !« sagt Pasquier.
»Das ist richtig«, antwortet Jens Ingemann, »vollkommen richtig. Es ist störend, Hennen im Zimmer zu haben. Aber ich finde trotzdem, daß wir ein sehr ordentliches kleines Orchester sind. Und es ist eine große Ehre, im Dienste des Königs zu stehen. Wir alle hätten unser Leben in irgendeiner kleinen Provinzstadt verbringen können, sonntags Kantaten spielen … Wenn ich mich recht erinnere, wart Ihr in Irland, im Haus eines Adligen, bevor Ihr zu uns kamt, Mr. Claire?«
»Ja«, erwidert Peter Claire. »Ich war bei Earl O’Fingal und habe ihn beim Komponieren unterstützt.«
In diesem Augenblick tritt ein Diener des Königs in den Speisesaal und verkündet, Seine Majestät sei von der Jagd zurück und werde nun im Vinterstue frühstücken. Er sagt nichts vom Keller, doch die Musiker wissen, daß sie jetzt dorthin müssen.
Sie stellen ihre Schalen auf den Tisch und eilen mit ihren Instrumenten in den nun heftig fallenden Schnee hinaus.
Jens Ingemann nimmt die Samthülle vom schönen Virginal, das Peter Claire vorher noch nicht bemerkt hatte, und setzt sich mit Blick auf den von ihnen gebildeten Halbkreis davor. Krenze, der deutsche Violaspieler, geht von einem Notenständer zum anderen und legt die Partituren auf. Das erste Stück ist eine Galliarde des spanischen Komponisten Antonio de Ceque. Rugieri läuft ebenfalls von Ständer zu Ständer und zündet die daran befestigten Kerzen an, von denen jeden Tag aufs neue Wachs auf die Notenblätter tropft.
Während sie warten, stimmen sie die Instrumente so leise wie möglich, damit kein disharmonischer Klang nach oben dringt. Hell brennen die Lampen. Im Hühnerkäfig müht sich eine braune Henne ab, ein Ei zu legen. Die Schneeflocken, die durch die Lücken in der Wand wirbeln, schmelzen beim Fallen und bilden zwei Pfützen eiskalten Wassers.
Oben läßt sich ein Geräusch vernehmen: Die Falltür öffnet sich. Sie stellen das Stimmen ein. Jens Ingemann hebt die Hand, um Ruhe einkehren zu lassen, doch die braune Henne gackert wehklagend weiter, weil das Ei noch halb in ihrem Körper steckt. Rugieri schlägt mit dem Bogen auf den Käfig. Vor Schreck legt die Henne das Ei und rennt dann glucksend herum.
Dann dringt aus der ausgeklügelten Rohranlage, die über der rechten Wand einmündet, die Stimme des Königs: »Nichts Feierliches heute! Hört ihr da unten? Keine Fugen! Keine langsamen Weisen! Spielt, bis die Falltür geschlossen wird!«
Sie fangen an. Es kommt Peter Claire so vor, als spielten sie nur für sich, als handle es sich um eine Probe für eine spätere Aufführung in einem großen, hell erleuchteten Saal. Er muß sich in Erinnerung rufen, daß die Musik gleich dem Atem, der durch den Körper eines Blasinstruments wandert, durch
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