Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ich in O’Fingals Augen auch nie alterte. Als ich auf die Dreißig zuging, war ich für ihn immer noch der weißgekleidete Engel, den er vor dem Kamin meines Vaters hatte stehen sehen, und mein Körper, der ihm inzwischen vier Kinder geboren hatte, war für ihn immer noch der vollkommene Körper eines Mädchens.
Doch jetzt begreife ich, daß man in seiner liebevollen Illusion bereits den Schatten oder das Muster der Tragödie erkennen kann, die im zehnten Jahr unserer Ehe ihren Anfang nahm.
Graf O’Fingal war zwölf Jahre älter als ich, sah jedoch jünger aus. Er war ungewöhnlich groß, ich glaube, ein Meter dreiundneunzig, so daß mein Vater ihn zwar für einen ehrenwerten und charmanten Mann hielt, aber nicht besonders gern neben ihm stand und sich mit ihm immer lieber im Sitzen unterhielt.
Er hatte sehr zarte Hände, die ausgesprochen ruhelos waren. Ständig gestikulierte er, faltete und entfaltete sie, als wollten sie sich von seinen Armen lösen und eine eigene Existenz fern von seinem Körper führen. Seine Haut war sehr weiß und sein Haar zwar nicht allzu dicht, aber von einer angenehmen braunen Farbe. Er hatte graue, lebhafte Augen. Weil er ihr Herr und Meister war und sein Vater, der verstorbene Graf, stets ein gewissenhafter Gutsherr gewesen war und für Sicherheit auf den Bauernhöfen und in den Hütten gesorgt hatte, fragten mich die Leute von Cloyne immer: »Und wie geht es Eurem gutaussehenden Gemahl, Lady O’Fingal?« In Wirklichkeit war in meinen Augen »gutaussehend« nicht der richtige Ausdruck, um Johnnie O’Fingal zu beschreiben, doch alles in allem war er ein recht netter junger Mann, und in meiner Einsamkeit der ersten Jahre in Irland begann ich ihn sehr gern zu haben.
Er war unseren Kindern ein guter Vater und bei ihrer Unterrichtung und mit ihrem kindischen Gehabe genauso geduldig wie bei meinen Englischstunden. Wenn ich mit ihm in dem hohen Raum mit dem Marmorboden das Abendessen einnahm oder er mir am Kamin Sonette vorlas, schaute ich oft zu ihm auf und dachte, eine gute Entscheidung getroffen zu haben, als ich ihn zum Mann nahm. Ich sollte hier noch etwas anderes erwähnen: Johnnie O’Fingal verfügte über ein beträchtliches Vermögen.
Doch nun muß ich zu der großen Katastrophe kommen. Sie nahm ihren Anfang in einer kalten Winternacht, als ein Sturm um unser Haus tobte und ich das Tosen des Meeres so nah hörte, als wolle es in unsere Zimmer eindringen und uns alle ertränken. Aus Furcht weckte ich Johnnie, der aufstand, für mich eine Lampe anzündete und mir einen Schal um die Schultern legte. Er erzählte mir, er habe das Meer als Knabe oft genauso tosen gehört, wüßte jedoch, daß es auch in tausend Jahren nicht unsere Türen erreichen würde. Es gelang ihm, mich zu beruhigen, und er saß im Schein der Lampe bei mir und hielt meine Hand.
Nach einer Weile dankte er mir, ihn gerade in diesem Augenblick geweckt zu haben. Als ich nach dem Warum fragte, erzählte er mir, gerade einen ungewöhnlichen Traum gehabt zu haben, der sich vielleicht, wenn er bis zum Morgen durchgeschlafen hätte, im Nichts, wie wir Vergessenes nennen, aufgelöst hätte.
Johnnie O’Fingal hatte geträumt, komponieren zu können. In dieser wundersamen Träumerei war er in die Halle hinuntergegangen, wo ein Virginal stand (das er ganz gut spielen konnte) und wohin er manchmal die besten irischen Musiker einlud, um uns und unsere Freunde mit einem Konzert zu unterhalten. Dort hatte er sich vor das Virginal gesetzt und nach einem Blatt des cremefarbenen Papiers meines Vaters und einem frisch gespitzten Federkiel gegriffen. Dann hatte er fieberhaft die Linien des Violin- und Baßschlüssels gezogen und sofort entsprechend den Tönen und Harmonien in seinem Kopf mit einer komplizierten Notenschrift begonnen, die ihm mühelos aufs Papier floß. Als er dann die niedergeschriebene Musik spielte, war es ein Klagelied von solcher Anmut und Schönheit, daß er nicht glaubte, in seinem Leben schon einmal etwas Vergleichbares gehört zu haben.
Ich fand diesen Traum so wundervoll, daß ich sofort sagte: »Nun, warum gehst du nicht gleich hinunter, um zu sehen, ob du dich nicht, wenn du am Instrument sitzt, an die Melodie erinnern kannst?«
»Ach nein«, antwortete er, »was wir in unseren Träumen vollbringen können, stimmt nur selten mit dem überein, wozu wir in Wirklichkeit fähig sind.«
Doch ich redete ihm zu. Nach dieser Nacht wünschte ich mir oft, es nicht getan zu haben.
Von mir gedrängt, ging
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