Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
die gewundenen Rohre getragen wird und klar und deutlich im Vinterstue austritt, wo König Christian sein Frühstück einnimmt. Er versucht, sich genau vorzustellen, wie es klingen mag und ob sein Anteil daran (sie spielen eine Galliarde, bei der die Flöten vorherrschen) zu hören ist. Wie immer bemüht er sich um Vollkommenheit, und da er so konzentriert spielt und lauscht, empfindet er die Kälte im Keller nicht so stark, wie er geglaubt hatte, und seine Finger bleiben flink und gelenkig.
Er hört auch, daß das Orchester einen vollen, üppigen Klang hervorbringt, einen Klang, wie ihn kein englisches Ensemble erzeugen könnte. Ingemann dirigiert und nickt im Takt mit dem Kopf. Tief im Klang ist etwas, was Peter Claire neu ist, eine Qualität, die er nicht genau definieren kann, die aber, wie er weiß, ihren Ursprung in der besonderen Zusammensetzung von Spielern aus sechs verschiedenen Ländern hat, von denen jeder seine eigene Sensibilität und Ausdrucksfähigkeit mitbringt. Peter Claire hat bereits gemerkt, daß es sich um sehr eigenwillige Männer handelt, die bestimmt oft unterschiedlicher Meinung sind, aber jetzt, zusammengekauert in ihrem dunklen Reich, eine reiche und fehlerfreie Harmonie schaffen.
Auf die Galliarde folgt eine Sarabande, ebenfalls von de Ceque. Peter Claire hat gehört, daß sich die Mahlzeiten Seiner Majestät, selbst das Frühstück, sehr hinziehen können und manchmal stundenlang ohne Pause gespielt werden muß. Doch heute ist das nicht der Fall. Als die Sarabande zu Ende ist und sie gerade umblättern, um sich auf das nächste Stück vorzubereiten, wird es plötzlich laut in den Rohren. Es klingt wie sonores Rülpsen.
Dann hören sie den König brüllen: »Schluß jetzt! Ich bekomme eine Magenverstimmung. Der Lautenist Mr. Claire möge in einer halben Stunde in mein Schlafzimmer kommen!« Die Falltür schlägt donnernd zu und schickt einen Schwall warmer Luft, der die Kerzen ausbläst, in den Keller.
Obwohl es erst zehn Uhr morgens ist, liegt König Christian im Bett. Die Vorhänge seines Schlafzimmerfensters sind zugezogen, und es brennen Lampen wie am Abend.
Er läßt Peter Claire neben sich Platz nehmen und sagt: »Ich wollte Euch noch einmal ansehen. Haltet Euer Gesicht hier ans Licht!«
Der König studiert es dann mit höchster Aufmerksamkeit, als sei es ein Kunstwerk. »Nun«, meint er nach einer Weile, »ich habe mich geirrt. Ich dachte, ich hätte Euch heute nacht nur geträumt, doch Ihr seid wirklich ganz real. Ich glaubte, ich hätte Euch mit den Engeln verwechselt, wie ich sie mir als Knabe vorstellen sollte, und auch mit … doch egal … So ähnlich habe ich Engel immer gemalt – mit Gesichtern wie Eurem. Meine Großmutter erzählte mir, sie würden auf den Wolken sitzen und mir Weihnachten Gold und Silber in die Schuhe legen. Ich glaube, ich warte schon mein Leben lang auf einen, doch keiner ist mir je erschienen. Doch nun seid Ihr hier, Ihr und Eure Laute. Daher habe ich mich entschlossen, Euch eine Aufgabe zu übertragen.«
Peter Claire erwidert, er werde jede Aufgabe übernehmen, an die Seine Majestät denke, doch gleich darauf verfällt der König in Schweigen. Er sieht jetzt müde und träumerisch aus, als schlafe er gleich ein, doch nach ein paar Augenblicken kommt er wieder zu sich. Er trinkt einen Schluck Wasser, in das ein weißes Pulver gerührt ist. »Für meinen Magen«, sagt er. »Er plagt mich Tag und Nacht. Läßt mich nicht schlafen. Und ein Leben ohne Schlaf wendet sich zum Schlechten. Man verliert den roten Faden. Und das ist es, was ich mir von der Musik erhoffe – daß sie mir den roten Faden wiedergibt. Sagt mir, was Ihr Euch von ihr erhofft!«
Diese Frage ist Peter Claire in seinen siebenundzwanzig Lebensjahren noch nie gestellt worden. Er stammelt, er glaube mit seinem Spiel etwas von sich Ausdruck verleihen zu können, das andernfalls stumm bliebe. Der König fragt: »Aber was für ein Etwas ist das, Mr. Claire? Könnt Ihr es definieren?«
»Nein. Vielleicht könnte ich sagen, es ist das, was in meinem Herzen ist …«
»Tiefer! Das menschliche Herz ist zu eng mit den Sinnen verbunden. Es liegt viel tiefer.«
»Ich glaube, dann weiß ich es nicht, Sir.«
»Ordnung! Das ist es, wonach wir uns aus tiefstem Herzens-grunde sehnen. Eine Ordnung, die Platos himmlische Harmonien widerspiegelt: ein Eingriff in das stille Chaos, das in jeder menschlichen Brust wohnt. Die Musik kann diese in uns noch am ehesten wiederherstellen. Selbst bei
Weitere Kostenlose Bücher