Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
er zum Lesen braucht, alle Last von der Seele nehmen.
Wie ist es möglich, fragt er sich, daß das menschliche Herz einer so absoluten Zuneigung verfallen und so schnell glücklich gemacht oder ins Elend gestürzt werden kann? Trauert das Rebhuhn um seinen verlorenen Gefährten? Empfindet ein Wolf, der vom Rudel ausgeschlossen wird, einen ähnlichen Kummer wie ein Mensch?
Peter Claire legt seinen Brief an Francesca beiseite und setzt zu schreiben an:
Oh, Emilia, Dein Schweigen ist gar nicht gut! Da kann ich mich noch so sehr bemühen, etwas Angenehmes darin zu entdecken: Es gelingt mir nicht. Es ruft in mir lediglich Disharmonie und Durcheinander hervor, so daß ich jetzt, in dieser Nacht, einen solchen Aufruhr in mir verspüre, daß ich mich fast frage, ob ich den Verstand verliere.
Ich flehe Dich an, mir zu schreiben! Es muß kein langer Brief sein. Sag mir bloß, daß ich Dich weiter als meine Liebste betrachten darf. Sag mir bloß, daß wir beide alles daransetzen werden, um im großen Schatten, den die Trennung des Königs von seiner Frau wirft, einen Weg zu finden, um eine gemeinsame Zukunft zustande zu bringen. Denn Du bist doch sicher nicht für immer bei Kirsten und ich nicht für immer beim König? Doch wie kann ich überhaupt auf eine solche Zukunft hoffen, wenn meine Briefe unbeantwortet bleiben?
Er beendet keinen der beiden Briefe. Ausdruckslos blickt er auf die Anfänge, die nebeneinander vor ihm liegen. Und dann geht er schlafen. Er hat derart wilde und wirre Träume, daß er sich am Morgen das Gesicht wäscht und so schnell wie möglich aus seinem Zimmer flieht, weil ihm der Gedanke an diese unerträglich ist.
Später am Tag, als es wieder dunkel wird und weitere Stunden ohne Nachricht von Emilia vergangen sind, unterschreibt er die wenigen Zeilen, die er an sie geschrieben hat, und versiegelt seinen Brief so, wie er ist. Er weiß, daß er bockig und knabenhaft ist, doch es ist ihm egal, und er drückt das Siegel mit einer Inbrunst ins heiße Wachs, die Zorn sehr nahe kommt.
Er legt den Brief zur Seite und greift nach einer Weile wieder zum Federkiel.
Francesca [schreibt er], ich muß Dich und Deinen Vater noch vor etwas anderem als der Kälte warnen, und zwar vor den Schwierigkeiten, in die der König in diesem Jahr, in dem ich bei ihm bin, geraten ist. Seine Frau ist nicht mehr hier, was allein es ihm schon sehr schwer ums Herz macht. Dazu kommt jedoch noch ein weiterer Jammer, und zwar der Geldmangel des Königs. Als ich ihm von Eurem Besuch erzählte und die großen Vorzüge des in der Ponti-Fabrik in Bologna hergestellten Pergaments und Velins rühmte, machte er mir klar, daß es ihm unmöglich ist, Papier aus Italien zu kaufen, und ich bin sicher, daß ihm auch die Daler fehlen, um eine Papiermühle zu errichten, in der Signor Ponti die Fabrikation des schönen Papiers aus dänischen Tannen überwachen könnte.
Hieraus ersiehst Du, daß Eure beabsichtigte Reise hierher vergebens sein könnte und Dein Vater vielleicht mit leeren Händen nach Bologna zurückkehrt und Ihr so die ganzen Ausgaben umsonst haben werdet.
Natürlich würde ich mich freuen, Dich hier auf Frederiksborg zu sehen, möchte jedoch keinesfalls, daß Du Deine Kinder zurückläßt und Dein Vater seine Arbeit für eine Reise im Stich läßt, die Euch nicht bringt, was sich Euer Herz ersehnt.
Voller Zuneigung von Deinem Freund
Peter Claire
Diesen zweiten Brief liest Peter Claire mehrere Male, bevor er ihn verschließt. Ihm fällt auf, wie geschmeidig Worte sein können und daß sie manchmal in sich andere enthalten, die nirgendwo geschrieben stehen und dem Auge für immer unsichtbar bleiben, aber dennoch existieren.
KIRSTEN: AUS IHREN PRIVATEN PAPIEREN
Mein Baby ist auf den Namen Dorothea getauft worden.
Ihr Kopf ist von einer blonden Daune bedeckt, sie hat strahlende Augen, und ich werde nie vergessen, daß ich, als ich mit ihr niederkam, mitten in den Wehen eine Art Ekstase erlebte, wie noch nie zuvor mit meinen anderen Kindern. Bei denen erfuhr ich nur ungemilderten Schmerz, und auch seitdem hat mir jedes einzelne von ihnen viele Unannehmlichkeiten bereitet.
Ich versuche nun, Dorothea zu lieben. Ich bete jeden Tag darum, daß ich sie nicht lästig finde. Ich stelle jedoch fest, daß es in der Natur von Babys liegt, alle um sich herum zu quälen. Sie sind schlimmer als Emilias Henne Gerda. Sie machen einen höllischen Lärm. Ihr Gestank ist fast unerträglich, denn sie spucken ständig Perlenfäden von
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