Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hätten sie ein geschmeidiges neues Federkleid. Und er versucht sich vorzustellen, wie Marcus durch den Pulverschnee auf ihn zukommt. Doch das Bild ist nicht fest; es kommt und geht und kehrt nach einer Weile nicht wieder zurück.
Johann, Ingmar, Wilhelm, Boris und Matti machen sich gegen neun Uhr auf den Weg. Magdalena lassen sie zurück, um das Braten der Gans zu überwachen. Magdalena fühlt sich in der Küche in ihrem Element, scheucht ihre Mägde wegen der Brotkrumen, getrockneten Aprikosen, Gewürznelken, Kastanien und des Schweinebratenfetts herum, knetet mit ihren kräftigen Händen die Füllung und sagt sich, daß vielleicht heute, am Heiligabend 1629 , eine Ära zu Ende geht und eine neue beginnt.
Es war nicht schwierig gewesen, die tote Frau Karen zu verdrängen. Johann zu verführen war so leicht gewesen wie das Ködern einer Fliege mit Sirup. Und sie hegte keinen Zweifel daran, daß sie die Herrschaft über die vier älteren Knaben besaß. Magdalena schwang das Zepter im Haushalt, und ihr eigenes Kind gedieh bei ihrer reichlichen Milch. Die meiste Zeit glaubte sie an eine sichere und angenehme Zukunft.
Doch ab und zu sah sie mit Unbehagen, daß noch ein Rest von Karens Macht geblieben war. Manchmal merkte sie es an Johanns Augen, dann fand sie ein Kleidungsstück seiner ersten Frau, das aufgehoben und nicht weggeworfen worden war, und wieder ein andermal war es ein Liedfetzen, an den sich einer der Knaben erinnerte. Und all dies haßte Magdalena mit einer solchen Inbrunst, daß sie in Sekundenschnelle in zügellose Wut geraten konnte.
Am häufigsten geschah dies, wenn sie mit Marcus zusammen war. Seit langem schon wollte sie ihn loswerden. Das Gerücht, daß in Århus eine Besserungsanstalt nach dem Muster des Königlichen Børnehus in Kopenhagen eingerichtet worden sei, hatte sie auf die Idee gebracht, das Kind dorthin zu bringen und es an jenem Ort, wo sie es nicht mehr sehen konnte, seinem geisterhaften Leben zu überlassen. Ihr kam es wie Verrat vor, daß Johann es nicht erlaubte, ein Verrat, der nur dadurch ein wenig abgemildert wurde, daß sie Karens Tochter gegenüber behaupten konnte, ihr Bruder sei dort – weil er gebessert werden müßte, weil er sich weigerte, glücklich zu sein, weil er in ein Schweigen verfiel, das niemand mehr durchbrechen zu können schien.
An dem Tag, an dem Kirsten und Emilia zu Besuch waren, hatte Johann Marcus aus Angst, dieser würde Emilia bitten, ihn mitzunehmen, im Keller versteckt.
»Soll sie ihn doch mitnehmen!« hatte Magdalena gemeint. »Soll er doch hingehen, wo er will!« Doch Johann wollte nicht nachgeben. Auch er, das sah Magdalena ganz deutlich, wurde von diesem Kind heimgesucht, dessen Geburt Karens Tod verursacht hatte.
Und nun war Marcus auf wundersame Weise verschwunden. Er war zu einem Ort seiner eigenen Wahl gegangen, wo man ihn vielleicht niemals wiederfinden würde.
Magdalena singt, als sie die schwere Füllung aus Kastanien und Aprikosen in die Gans stopft. Sie tätschelt deren feuchte und picklige Haut, die nun gebraten wird, bis sie saftig, bernsteinfarben und knusprig ist, und ißt ein eingelegtes Ei.
Als die gefüllte Gans gerade in ein Bratgeschirr gelegt wird, betritt Ingmar die Küche.
Er erzählt Magdalena, er habe sein Pferd, weil es gelahmt habe, langsam nach Hause geführt, während Johann und seine Brüder zum See weitergeritten seien. Bis jetzt habe es keinerlei Anzeichen von Marcus gegeben.
Ingmar steht auf der anderen Seite des Holztisches, als sich Magdalena über die Gans beugt, noch immer an ihr herumklopft, die Keulen und Flügel zurechtschiebt und sie dann mit Salz einreibt. Er bewegt sich nicht. Er starrt.
»Was für eine schöne, große Gans!« meint Magdalena bei ihrer Arbeit.
Sie weiß, daß Ingmar nicht auf den Vogel starrt, an dem sich alle ergötzen werden, sondern auf ihre Brüste, die schwer von der Milch sind und zu dick für das Kleid, das sie trägt.
Sie nimmt eine weitere Handvoll Salz. Sie beugt sich noch weiter zu Ingmar hinüber, und ihre geröteten Hände arbeiten noch kräftiger, so daß ihre Brüste hin und her schaukeln. Und sie braucht den Blick nicht zu Ingmar zu heben, um zu wissen, was er will, und zu dem Schluß zu kommen, daß sie genau das auch will. Sie hatte es auch damals gewollt, als sie sich von ihrem Onkel in einem der Schweineställe lieben ließ und wenig später begriff, daß sich der Sohn danach sehnte, auch dorthin zu gelangen, wo der Vater gewesen war. Und dann hatte sie
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