Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
nicht gesprochen, da alles schon vorher geregelt worden ist. Als George zur Hitze und Wärme des Wohnzimmers zurückkehrt, setzt er sich einfach neben Pfarrer Claire und beginnt mit diesem ein Gespräch über Peter und ihre gemeinsame Hoffnung, daß Charlottes Bruder zur Hochzeit im April heim nach England kommt.
Nur ganz allmählich werden sich die Gäste dann eines neuen Klangs bewußt, eines Klangs, der von draußen aus der Dunkelheit in die Räume strömt. Langsam flauen die Gespräche ab, heben sich die Köpfe und werden die Ohren angestrengt, um festzustellen, woher er kommt. Alle schweigen nun und hören dem Spiel der Zigeuner zu, und eine andere Stimmung greift um sich, eine des Staunens und Sichsehnens. Sie wischen sich die Gesichter ab, rücken sich die Kleidung zurecht und merken, daß ihre Körper müde sind und sie sich kaum noch rühren können. Sie wollen jetzt nur noch, daß diese andere Art Musik, die ihre Herzen nach all dem Lachen und Feiern höher schlagen läßt, nicht aufhört. Sie haben fast das Gefühl, nicht mehr auf einer Gesellschaft zu sein, sondern woanders, jenseits von Zeit und Raum, wo sie sich schon immer hingesehnt haben, aber bis jetzt noch nie gewesen sind.
Charlotte, die neben ihrer Mutter sitzt und einen kühlenden Becher Limonade trinkt, gibt Anne einen zärtlichen Kuß auf die Wange, steht dann leise auf und geht zu George hinüber. Dieser nimmt ihre Hand, und dann gehen sie beide, ohne ein Wort zu sagen, in die Halle und dann in die Nacht hinaus.
Sie stehen an der Eingangstür, die Wärme und das Licht im Rücken und vor sich die Terrasse und der Garten, weiß vom Frost, aber jetzt fast dunkel, weil der Mond hinter den Bäumen und Hecken versinkt und dann ganz verschwindet. Sie atmen die eiskalte Nachtluft tief ein. Sie blicken auf eine Welt magischer Stille, und die Schönheit der alten Roma-Weisen, die Meere und Reiche überquert haben, um zu diesem stillen Winkel Englands zu gelangen, aber noch immer den Geist des Orients in sich tragen, erfüllt ihre Herzen.
DIE GESCHICHTE EINER HINRICHTUNG
Peter Claire betrachtet im Spiegel sein Gesicht.
Er versucht zu sehen, was andere sehen, seine Gesichtszüge objektiv wahrzunehmen. Das Licht, das auf sie fällt, ist kalt und hart.
Seine blauen, unverwandt blickenden Augen gleichen denen eines Kartographen, der angestrengt versucht, sich die Ebenen und Flüsse, Wüsten und Städte vorzustellen, wie sie wirklich sind und seiner Karte zugrunde liegen, und feststellt, daß dies viel schwieriger ist, als er geglaubt hatte.
Wo liegt die Wahrheit über ihn selbst?
Wenn König Christian in ihm einen Engel zu sehen beliebt, ist es dann, weil in ihm – in seiner Natur, die furchtsam und von einem alles umhüllenden Pessimismus bedrängt ist – etwas im wesentlichen Tugendsames vorhanden ist? Kann der König – mit seinen vielen Lebensjahren und seiner langen Erfahrung mit guten und bösen Taten der Menschen – in seine Seele blicken? Peter Claire bewegt den Kopf und sieht sich sein linkes Auge und seinen an diesem Januarmorgen glänzend-blassen Wangenknochen an. Wenn sich Emilia Tilsen an sein Gesicht erinnert, was sieht sie dann? Die Züge eines eitlen Verführers? Die Erinnerung, daß er einst glaubte, sie allein würde ihm seine beste Natur enthüllen, bringt ihn jetzt in Verlegenheit. Denn was sonst sagt sie ihm durch ihr Schweigen, als daß sie ihn nicht lieben kann? Und wenn sie ihn nicht lieben kann – sie, die sogar Kirsten gegenüber loyal ist und sich um ein gesprenkeltes Huhn sorgen kann –, nun, dann ist er es nicht wert, geliebt zu werden.
Peter Claire legt den Spiegel aus der Hand und blickt auf seine an einen Stuhl gelehnte Laute. Bevor er Emilia kennenlernte, fühlte er sich am glücklichsten, am besten im Einklang mit sich und der Welt, wenn er spielte. Doch Musik ist Entrücktheit. Was glaubt ein Lautenspieler auszudrücken? Er bemüht sich um Genauigkeit, ist jedoch überzeugt, daß durch diese hindurch etwas von seinem Herzen gehört werden kann.
Wie irregeführt ist er darin? John Dowland hatte ein schwarzes Herz. Er wurde als größter Musiker Englands angesehen, doch seine Seele war, wie man hört, von Bitterkeit und Ekel erfüllt.
Peter Claire setzt sich auf einen Stuhl und blickt auf die Wand. Zum erstenmal in seinem Leben möchte er lieber sterben als auch nur eine Woche weiterleben. Er lauscht auf den Wind draußen in den Bäumen, als hoffe er in dem Seufzen die verstohlene Ankunft eines Henkers
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