Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
wahrzunehmen.
Sie ist blaß von den langen Tagen und Nächten des Reisens. Sie ist größer, als er sie in Erinnerung hatte.
Francesca und ihr Vater blicken ihn forschend an, als sie ihm nacheinander die Hand reichen, als wollten sie gleich seine Gedanken lesen.
Ihre Augen ruhen auf ihm, als er die Diener anweist, den Reisenden aus Irland ihre Zimmer auf Frederiksborg zu zeigen. Dann erklärt er ihnen hastig, daß der König in diesem kalten Winter bei schlechter Gesundheit sei und seine versprochenen Audienzen oft nicht gewähren könne. »Er wird Euch sehen«, sagt er, »dessen bin ich mir sicher, doch Ihr müßt Euch vielleicht ein paar Tage gedulden.«
»Natürlich gedulden wir uns!« erwidert Francesca. »Und ich glaube wirklich, daß jede Verzögerung etwas Gutes haben kann. Wir haben dann Zeit, uns an die Lebensumstände hier zu gewöhnen. Ist es nicht so, Vater?«
»So ist es!« bestätigt Ponti. »So ist es!«
»Und hinzu kommt«, fährt Francesca fort, »daß Mr. Claire, wenn der König krank ist, vielleicht nicht so stark im Orchester beansprucht wird und so mehr Zeit mit uns …«
»Nun …«, setzt Peter Claire an.
»Auch das ist so!« meint Ponti.
Sie folgen den Dienern vom kalten Sonnenlicht im Freien in die Palastgänge. Peter Claire möchte erklären, daß König Christian seine Musiker oft mehr braucht, wenn er krank ist, als wenn es ihm gutgeht, findet aber nicht die richtigen Worte dafür, weil er weiß, daß Francesca nur voller Verachtung für sie sein wird, weil sie in ihnen sieht, was sie sind – seine Entschuldigung, sie zu vernachlässigen, allen Umgang mit ihr zu vermeiden, der ihn daran erinnern könnte, was er einst gefühlt hat. In diesem Augenblick begreift Peter Claire, daß ihm Francesca O’Fingal tiefer ins Herz sehen kann als sonst jemand, einschließlich er selbst.
Das wird durch alles, was er sieht, bestätigt. Ihre Augen sprühen Feuer. Sie reicht ihm eine ihrer Schachteln, um sie die Treppe hinaufzutragen. Sie verhält sich wie eine Mutter, die gemerkt hat, daß ihr Lieblingssohn sie anlügt, und ihn so lange ihren Zorn spüren läßt, bis er die Wahrheit sagt. Und Peter Claire bleibt nur, ihr mit der Schachtel in der Hand zu folgen. Er fühlt sich klein und schwach. Wie er sie so vorausgehen sieht mit ihrem festen Schritt, ihren fliegenden Röcken, ihrem dunklen, sich aus den Flechten lösenden Haar, weiß er, daß ein Teil von ihm wieder – in diesen wenigen Augenblicken – genau dem verfällt, wovor er sich so fürchtete: Francescas Macht über ihn.
Als sie oben an der Treppe ankommen, nicht weit von dem Zimmer entfernt, das Emilia bewohnte und in dem er das Huhn und das graue Kleid antraf, wagt er es, Francescas Blick zu begegnen. Sie lächelt, und es ist ein triumphierendes Lächeln, das besagt: Es ist nicht vorbei, Peter Claire! Männer mögen ja meinen, ihr Tun habe keine Konsequenzen, doch das ist nicht so.
Der König, der von Magenschmerzen geplagt wird, bleibt in seinem Zimmer und empfängt niemanden, so daß Francesca und ihr Vater mit Peter Claire und dem restlichen Orchester zu Abend essen.
Jens Ingemann ist umgänglich, preist gegenüber den italienischen Gästen »das große Gefühl für Musik in der italienischen Seele« und lächelt Martinelli und Rugieri zu. Peter Claire merkt, daß alle Männer im Raum von Francescas Schönheit angetan sind. Jeder weiß, daß sie Witwe ist. Sie fragen sich, ob sie vielleicht hier bei ihnen bleibt. Niemand ahnt, daß Peter Claire ihr Geliebter war.
Das Gespräch beginnt in Englisch, wirbelt ins Italienische, was Pasquier beunruhigt, der es mit Französisch versucht, worauf Francesca holprig, über ihre eigenen Fehler lachend, antworten kann. Sogar Krenze, der so oft Distanz zur Geselligkeit des Orchesters wahrt, bemüht sich, mit diesen wechselnden Sprachen zurechtzukommen, um nicht ausgeschlossen zu werden.
Peter Claire, der etwas von Francesca entfernt sitzt, beobachtet, wie sie diese internationalen Schmeicheleien akzeptiert, als wären sie die übliche Alltagswährung. Sie ist liebenswürdig und witzig. Wenn sie sich ein Lächeln erlaubt, ist es mehr heiter als flirtend. Im Kerzenschein sieht sie in ihrem dunkelblauen Kleid aus, als habe ihre Schönheit einen Augenblick der Vollkommenheit erreicht. Und sie scheint das zu wissen. Wie lange, sagen ihre Blicke und Gesten in seine Richtung, kannst du widerstehen?
Er wendet sich von ihr ab und unterhält sich mit Ponti über Dänemark und dessen große
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