Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Musik Charlotte endlich begreifen, daß die dunklen Tage vorüber sind und ein anderes Leben auf sie wartet. Daß sie mit ihrem Verlobten in Gesellschaft seiner Freunde tanzen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller stehen und George im Saal herumtollen sehen wird, als wäre er nie dem Tod nahe gewesen, habe nie irgendwelche Qualen erlitten, läßt in ihr ein solches Glücksgefühl aufsteigen, daß sie fast in Tränen ausbricht.
Doch was soll man, überlegt sie, als ihr das letzte Band ins dunkle Haar geflochten wird, vom Leben halten, wenn es so widersprüchlich ist? Sie hatte sich schon fast an den Gedanken gewöhnt, daß George Middleton sterben und sie ihre restlichen Tage in Trauer um das, was hätte sein können, im Haus ihrer Eltern verbringen würde. Und nun muß sie sich wieder auf eine Zukunft einstellen, in der es im Frühjahr eine Hochzeit geben, sie die Herrin von Cookham und irgendwann in den vor ihnen liegenden Jahren die Mutter von Georges Kindern sein wird.
Charlotte Claire sieht sich im Spiegel an. Sie war stets unzufrieden gewesen, weil sie nicht die Schönheit ihres Bruders besaß. Doch an diesem Abend, am Abend von George Middletons Fest, findet sie sich schön. Als ihr Kleid geschnürt und ihr eine einfache Perlenkette um den Hals gelegt wird, befällt sie plötzlich das dringende Verlangen, jetzt, in dieser Minute, bei George zu sein, damit der Abend beginnen kann und nicht ein Augenblick davon ausgelassen oder verschwendet wird. Denn angenommen, es wäre nun doch der letzte Abend in ihrem oder Georges Leben? Wenn es am Ende doch keine weitere Zukunft nach dieser einen wunderbaren Nacht geben würde?
Sie beeilt sich jetzt, steckt ihre Füße in die weißen Satinschuhe, greift rasch nach dem Fächer und schickt sich an – nachdem sie verstohlen noch einen letzten Blick in den Spiegel geworfen hat –, zur Musik und dem Wunderbaren, das sie erwartet, hinunterzugehen.
Die Halle ist mit Stechpalmen- und Eibengirlanden geschmückt, und Charlottes Kleid aus Satin und Samt (die Art Kleid, wie es die Tochter eines Landpfarrers vielleicht nur ein- oder zweimal im Leben trägt) ist wie ein Echo auf die rotgrünen Zweige, die in den Wäldern von Cookham abgeschnitten worden sind. Die kräftigen Farben schmeicheln ihrer weißen Haut und sind vorteilhaft für ihr dunkles Haar.
Einen Augenblick ist sie versucht, sich ihren Eltern zu zeigen, die im Zimmer nebenan ihren gewohnten einfachen Staat anlegen, unterläßt es jedoch, weil sie jetzt an Georges Seite sein muß, um sich der Wärme seiner Hand zu vergewissern, seine Stimme und sein Lachen zu hören … Sie will sicherstellen, daß er da ist.
Er kommt gerade in die Halle zurück, als sie die Treppe herunterkommt. Er bleibt stehen, und einer der Hunde trottet zu ihm hin. Er krault ihm den Nacken und blickt hinauf.
Obwohl Charlotte Claire eine Frau ist, der Eitelkeit fast fremd ist, kostet sie nun dieses erlesene Hinunterschreiten unter Georges bewundernden Blicken wie noch keinen Augenblick zuvor in ihrem Leben aus, und bei jedem Schritt scheint sie sich ihrer eigenen Vollkommenheit bewußter zu werden. Sie kann nur erraten, was George Middleton empfindet, und ihre Mutmaßungen, falls man die Wahrheit überhaupt völlig richtig ausdrücken kann, bleiben in Wirklichkeit weit hinter der Realität zurück.
Denn George Middleton weiß, daß er sich an diesen Augenblick, als Charlotte die Treppe von Cookham heruntergeschritten kommt, ganz gleich, was noch vor ihnen liegen mag, bis an sein Lebensende erinnern wird. »Daisy …«, murmelt er. »Oh, Daisy …«
Er streckt ihr die Hand hin, und sie nimmt sie, und er drückt Charlotte an sich und wirbelt sie herum wie ein kleines Mädchen, küßt sie auf den Hals, die Wange und das Ohrläppchen. »Wie schön du bist!« bricht es aus ihm heraus. Dann hält er sie auf Armeslänge von sich gestreckt, wie ein Gemälde, das ihn entzückt. »Kein Kleid könnte dir besser stehen! Kein einziges! Dieses Kleid hat zweiundzwanzig Jahre auf dich gewartet.«
Charlotte lächelt und blickt nun ihrerseits, immer noch seine Hand haltend, anerkennend auf den burgunderfarbenen Rock ihres Verlobten und die kühnen Spitzenverzierungen.
George Middleton fängt an zu lachen. »Daisy«, sagt er, »ich sehe es dir an, daß du ein wenig erstaunt bist.«
»Ja«, antwortet Charlotte, »aber nur, weil ich an den AlltagsGeorge gewöhnt bin …«
»Sag mal ganz ehrlich: Sehe ich aus, als ob ich in einen weißen Pudding gefallen
Weitere Kostenlose Bücher