Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Johnnie schließlich in die Halle hinunter und weckte einen Diener, um ein Feuer anzumachen. Er verbrachte die ganze restliche Nacht vor dem Virginal, wo ich ihn, als ich zum Frühstück hinunterging, in der Sonne sitzen sah, die im Gefolge des Sturms durch eines der hohen Fenster fiel. Sein Haar war zerzaust. Auf dem Boden lag viel zerknülltes, mit Linien und Noten bekritzeltes Papier.
»Nun, Johnnie?« fragte ich.
Er griff nach meiner Hand. »Hör!« sagte er. »Hör zu!«
Er begann eine Melodie von seltsam schwermütiger Süße zu spielen, die mich ein wenig an eine erinnerte, die ich vor langer Zeit einmal in Bologna gehört hatte und die von dem großen Alfonso Ferrabosco stammte. Ich saß schweigend und staunend da. Als er plötzlich abbrach, rief ich: »Spiel weiter! Es ist schön, Johnnie. Spiel mir alles vor!«
Er konnte aber nicht weiterspielen. Er erzählte mir, ihm seien diese wenigen wunderbaren Akkorde in den ersten fünfzehn Minuten am Virginal eingefallen, doch alle Versuche fortzufahren hätten nur Mittelmäßiges hervorgebracht, das alles Vorherige verdarb. Ich sagte, das liege an seiner Müdigkeit, und schlug ihm vor, sich wieder hinzulegen und noch ein Weilchen zu schlafen, um dann ausgeruht noch einmal von vorn zu beginnen. Ich strich ihm übers Haar und glättete es ein wenig. Zwei unserer Kinder waren heruntergekommen und schauten verdutzt auf ihren zerzausten Papa. Und dann legte Johnnie O’Fingal zu ihrer Bestürzung – denn das war etwas, was sie noch nie gesehen hatten und wahrscheinlich auch glaubten, nie in ihrem Leben zu sehen – sein Gesicht in die Hände und weinte.
EMILIA TILSEN
Sie kam in Jütland zur Welt. Ihr Vater, Johann Tilsen, ist ein reicher Gutsbesitzer mit einer Leidenschaft für Sommerobst. Er fällte Buchen- und Eichenwälder, um Plantagen mit schwarzen Johannis- und Loganbeeren anzulegen. Als Kind roch Emilias Atem süß nach Erdbeerkuchen.
Sie ist das älteste von sechs Kindern und das einzige Mädchen. Nach ihr wurde ein Bruder nach dem anderen geboren. Sie platzten schreiend und strampelnd in die Welt, hefteten ihre Gaumen an die Brüste ihrer Mutter und saugten sie so kräftig aus, daß diese sich ganz verwundet fühlte und anfing, in den Stillpausen auf ihrem leinenbedeckten Tagesbett zu liegen, nur um wieder zu Kräften zu gelangen.
Emilia saß dann neben ihr auf dem Boden und sang ihr seltsame, selbstausgedachte Lieder vor: »Woraus ist der Himmel, den ich seh’?/ Manchmal ist er tanzender Schnee.« Sie bedeckte die Hände ihrer Mutter mit Küssen.
Emilias Mutter Karen gewöhnte sich an die Anwesenheit ihrer sanftmütigen und redseligen Tochter und liebte sie allmählich mehr als alles und jeden sonst auf der Welt: mehr als ihren Mann Johann, mehr als ihr schönes Haus und den Duft der Obstfelder, mehr als die verbliebenen Buchenwälder und mehr als ihre wilden Söhne. So blickte sie Emilia auf ihrem Tagesbett liegend in die grauen Augen und auf ihr langes, weder dunkles noch helles Haar und sagte: »Nichts kann uns trennen. Wir werden immer so zusammen im Frühstückszimmer sitzen. Wenn du heiratest – aus Liebe, mein Schatz, nicht, weil er Geld, Land oder einen Titel besitzt –, bauen wir für dich und deinen Mann in Sichtweite dieses Fensters ein Haus, damit wir uns jeden Tag sehen können.«
So wuchs Emilia im Schutz von Karens Liebe auf. Sie gingen zusammen in der schönen Landschaft spazieren, langsam, Arm in Arm und sich dabei unterhaltend, während die Brüder vor ihnen herrannten und -purzelten, mitgezogen von Johanns entschlossenem Schritt, begeistert von ihrem Bogenschießen, ihren Hunden und ihrem Unterricht in der Falkenjagd. Vor dem Schlafengehen bürsteten sie sich gegenseitig die Haare und sprachen nebeneinander ihre Gebete: Gott segne und beschütze meine geliebte Tochter Emilia. Gott, bitte segne und beschütze meine geliebte Mutter Karen.
Doch Gott hörte sie nicht. Oder aber, wenn Er sie doch hörte, tat ihnen nicht den Gefallen.
Zwei Tage nach Marcus’ Geburt starb Karen Tilsen in Emilias Armen. Es war an einem Februarmorgen, und der graue Himmel, der über der Welt hing, schien sich im Augenblick des Todes in einem endlosen, erstickenden Strom durchs Fenster ins Zimmer zu ergießen, in Emilias Leben einzudringen und es auszulöschen. Sie war fünfzehn Jahre alt.
Jetzt ist sie achtzehn. Sie ist klein und still. Um ihren schlanken, weißen Hals trägt sie an einem Samtband ein Miniaturporträt von Karen, und das ist der
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