Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ihrer beider Atem hatte sich zu einer einzigen Wolke vermischt, die vor ihnen hertanzte, und das Geräusch ihrer ins Eis einschneidenden Kufen war wie Gesang.
»Zeig Mut, Emilia!« hatte Karen zu ihr gesagt.
Was bedeutete das genau? Welche Art Mut hatte ihre Mutter von ihr verlangt? Das fragt sich Emilia in ihrem schmalen Bett. Sie kann sich keine glückliche Zukunft für sich vorstellen.
Sie kommt zu dem Schluß, es könne der Mut sein, zu ihrem Vater zu gehen und ihn zu fragen, ob man für sie vielleicht eine Stelle in einem Haushalt – als Krankenschwester, Betreuerin oder Hofdame – finden könnte. Sie sagt das mit gesenktem Blick, so daß sie die Person, an die sie ihre Worte richtet, nicht sehen kann, für den Fall, daß der in ihr erwachte Haß in den Raum kommt und sich dort niederläßt, alle vorhandene Luft verbraucht und das Atmen unmöglich macht.
»Schau mich an!« sagt Johann.
Doch sie kann es nicht. Will es nicht. Das Wissen, den eigenen Vater zu verachten, ist schwer zu ertragen.
»Schau mich an, Emilia!«
Sie spürt, wie ihr Gesicht heiß und rot wird. Sie hält sich am Medaillon mit seinem Samtband fest. Zeig Mut, Emilia!
Als sie schließlich aufschaut, sieht sie ihren Vater still dastehen und traurig auf sie blicken. Sie sagt sich, daß er kein böser Mann ist und nur von Magdalena verhext ist; daß er, wenn es Magdalena nicht gäbe, nicht lüstern und vergeßlich wäre und mit seinem zum fernen Horizont zeigenden Geschlecht in den See hinauslaufen würde.
»Nun«, sagt er freundlich. »Sag mir, warum ich dir eine solche Stellung suchen soll. Ich hatte immer angenommen, du würdest hierbleiben, bis du eines Tages heiratest.«
»Ich werde niemals heiraten«, antwortet sie. »Ich werde nie jemanden lieben. Ich will niemanden lieben.«
»Warum sagst du das?«
»Weil es wahr ist. Ich will keinen Mann. Ich will nicht, daß mich jemand berührt. Ich möchte gern Kinder betreuen oder einem einsamen Menschen in einem weit entfernten Haushalt Gesellschaft leisten. Das ist alles.«
Man kann das Ticken der schönen Uhr hören. Draußen schneit es. Woraus ist der Himmel, den ich seh’?
Nach einem langen Augenblick des Uhrtickens und stillen Schneiens, in dem Emilia mehrere Liedfetzen durch den Kopf gehen, sagt Johann: »Ich will nicht unvernünftig sein. Wir werden versuchen, eine Stelle, wie du sie dir für dich vorstellst, zu finden, und dich dort unterbringen, doch nur für kurze Zeit, und danach werde ich verlangen, daß du zurückkehrst. Und dann werden wir uns mit deiner Heirat befassen. Du muß heiraten, Emilia, und damit basta!«
Emilia würde gern sagen: Heirat bedeutet das blindwütige Saugen von Babys; Heirat bedeutet Sterben an einem Februarmorgen, ohne daß es eine Rettung gibt; Heirat bedeutet Magdalena und ihre Röcke, so rot wie Blut, und ihren Bann, den niemand brechen kann.
»Ich denke, das ist ein faires Angebot!« meint Johann.
Emilia antwortet nicht. Sie weiß, daß es immer Möglichkeiten gibt, der Zukunft ein Schnippchen zu schlagen. Ein Teil von ihr glaubt an einen Platz im Himmel, wo Karen zu finden ist und geduldig auf sie wartet.
»Bis dahin«, fährt Johann fort, »wirst du freundlicherweise deiner Stiefmutter mehr Zuneigung zeigen. Sie ist dir gegenüber großzügig und gutherzig, und du bist unnötig kalt und abweisend. Um meinetwillen wirst du künftig netter zu ihr sein!«
Emilia blickt in den Schnee hinaus. Sie denkt, wie rücksichtsvoll es doch von der Natur ist, immer in Bewegung und im Wandel begriffen zu sein, so daß einer kummervollen Seele stets etwas Neues zur Unterhaltung geboten wird.
AUS GRÄFIN O’FINGALS TAGEBUCH,
»LA DOLOROSA«
Ich muß nun meine vier Kinder erwähnen. Als unsere große Tragödie begann, war das älteste Kind, Mary (Maria), neun, meine beiden Söhne Vincent (Vincenzo) und Luke (Luca) waren acht und sechs, und meine Jüngste, Juliet (Giulietta), war gerade vier Jahre alt. Wenn mir auch bewußt ist, daß Mütter die Tugenden ihrer Kinder sehr oft ausschmücken und ihnen sogar Gaben und Attribute andichten, bitte ich doch alle, die dieses Tagebuch lesen, mir zu glauben, daß diese Kinder, die auf Cloyne sehr liebevoll aufgezogen wurden und viele kluge, tüchtige und geduldige Lehrer und Erzieher hatten, um sie in Philosophie und Latein, Italienisch und Französisch, Tanzen, Fechten, Reiten, in der Dichtkunst und im Sticken zu unterrichten, zu den betörendsten und schönsten Seelen heranwuchsen, die man sich vorstellen
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