Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
einzige Besitz, der ihr wirklich etwas bedeutet.
Von den Menschen mag sie ihren jüngsten Bruder Marcus am liebsten. Oft flüstert sie ihm zu: »Du hast meine Mutter getötet, Marcus!« Doch er versteht noch nicht genau, was sie meint, klammert sich an sie und hofft, es herauszufinden. Sie nimmt ihn auf den Schoß und drückt ihn fest an sich, weil er wie Karen riecht, fast so, als wäre er noch ein Teil von Karens Körper. Sie singt ihm vor und nimmt ihn im eisigen Winter mit zum Schlittschuhlaufen. Und sie sagt zu ihm, Magdalena sei eine Hexe.
Magdalena kam nach Karens Tod als Haushälterin ins Haus. Sie hat dunkle Haare und breite Hüften, und Emilia bittet Gott, durchs Fenster zu kommen und sie mit dem Schwert zu erschlagen. Sie stellt sich vor, wie Magdalenas abgetrennter Kopf die Holztreppe hinunterrollt und in der Halle auf den Steinplatten aufschlägt. Sie malt sich aus, daß schwarzes Blut aus Magdalenas Augen fließt.
Doch Johann wollte Magdalena von Anfang an besitzen. An ihrem allerersten Morgen, ungefähr drei Monate nach Karens Tod, folgte er Magdalena in die Wäschekammer, verriegelte die Tür von innen, schob ihre breiten Hüften an eine Kommode und drang von hinten in sie ein. Sie wehrte sich nicht, sondern murmelte vielmehr, ihr habe noch nie etwas besser gefallen, als auf diese Art genommen zu werden. Als Johann fertig war, sagte er, während er seine Kniehose zuknöpfte und noch immer erstaunt auf Magdalenas riesigen Hintern schaute: »Als dein Lohnherr möchte ich dies ab und zu. Es wird dir nicht weh tun, das verspreche ich dir, sondern im Gegenteil ein angenehmer Teil deiner Pflichten werden, und aus der Pflicht wird am Ende vielleicht noch etwas anderes.«
Es dauerte kein Jahr, und er heiratete Magdalena. Bei der Hochzeit wandte Emilia den Blick von dem Paar ab und zum grauen Himmel draußen, der am Morgen von Karens Tod ins Zimmer gekommen war und ihre Existenz ausgelöscht hatte. Sie bat den Himmel, einen Wirbelwind zusammenzubrauen und Magdalena vom Erdboden verschwinden zu lassen.
Emilia wartete und wartet noch immer, doch der Wirbelwind blieb aus. Die Jahre gehen ins Land. Die Erd- und Loganbeeren beginnen zu blühen, der Sommerregen fällt, die Früchte schwellen an, färben sich rot und purpurfarben und werden gepflückt, die Blätter werden schlaff, verlieren ihre Farbe und fallen, und noch immer stürzt sich kein Wirbelwind auf Magdalena, um sie in die Wolken zu schleudern.
Johann und Magdalena wird ein Knabe geboren, der schon nach wenigen Stunden stirbt. Emilia betet wieder um Magdalenas Tod, doch auch diesmal werden ihre Gebete nicht erhört. Johann ist nach wie vor besessen von Magdalenas Hintern, und er wird immer sorgloser damit, wann und wo er sie nimmt, so daß Emilia, als sie an einem heißen Nachmittag mit Marcus am See spazierengeht, plötzlich auf Magdalena stößt, als sich diese mit gespreizten Beinen übers Wasser beugt und dann ihre Röcke hebt, so daß ihre weißen Fleischmonde sichtbar werden. Dann sieht sie auch Johann, der bis aufs Hemd nackt und im Stadium starker Erregung auf Magdalena zuwatet. Der dreijährige Marcus lacht und deutet mit dem Finger auf sie. Er versteht nicht, was er sieht. Emilia legt ihm die Hand vor die Augen. Magdalena und Johann drehen sich um und blicken vorwurfsvoll auf die Kinder. Dann kauern sie sich nieder und verstecken ihre unteren Körperhälften im Wasser. Magdalenas Röcke bauschen sich rot wie Blut um sie herum. »Geht weg!« ruft Johann.
In der Nacht kommt Emilia dann zu dem Schluß, daß ihr Leben unerträglich geworden ist. Ihr Haß auf Magdalena, zunächst vor dieser verborgen, doch nun immer sichtbarer, schließt allmählich noch etwas anderes ein: Haß auf ihren eigenen Vater. Sie meint, dieser sei vielleicht grenzenlos. Grenzenlos.
Schweißgebadet vor Ekel und Verwirrung, schläft sie ein und träumt von ihrer Mutter. Sie erkennt dieses Gefühlsmuster wieder: erst die Qual, dann die Ruhe. So war ihr Leben fünfzehn Jahre lang verlaufen: Krank oder bekümmert, durcheinander oder traurig ging sie zu Karen, diese sprach mit ihr, strich ihr übers Haar und hielt ihre schmale Hand in der ihren, und nach einer Weile fand sie zur Normalität und Gelassenheit zurück und wußte, daß sie ihr Leben fortsetzen konnte.
Nun wacht Emilia weinend auf, weil der Traum so schön und wirklichkeitsnah war. Sie war die ganze Zeit mit Karen Schlittschuh gelaufen, Arm in Arm und immer weiter einen langen, zugefrorenen Fluß hinunter,
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