Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
kann.
Ganz gleich, wo sie mit Johnnie und mir in unseren Ländereien auftauchten: die Männer – egal, ob sie Schäfer, Schweinehirt, Köhler, Muschelsammler oder Geflügelzüchter waren – eilten mit ihren Frauen und Familien mit Geschenken für die Kinder zu unseren Wagen. Sie blickten voller Freude auf sie, strichen Giulietta übers Haar und ließen sie auf ihren Feldern und in ihren Gärten Wildblumensträußchen pflücken.
Diese Liebe der Leute zu seinen Kindern freute und bewegte ihren Vater sehr, und er pflegte oft zu mir zu sagen, er glaube, ein Kind, das von seinen Eltern richtig geliebt und niemals verletzt oder gequält wurde, erwecke überall Zuneigung. Es wird so sein Leben lang mit der Liebe im Einklang stehen – vielleicht so, wie man sich in bequemen und warmen Kleidungsstücken wohl fühlt – und niemals um Zuneigung buhlen, die es gar nicht braucht, oder danach streben, von aller Welt vergöttert zu werden.
Ich war ganz seiner Meinung und bin es noch und habe versucht, seit die schlechten Zeiten für uns begonnen haben, meine Liebe zu Maria, Vincenzo, Luca und Giulietta in dem Maße zu vergrößern, wie Johnnies liebevolle Fürsorge für sie abnahm, so daß diese schönen Kinder trotz allem, was geschehen ist, in ihrem späteren Leben mit der Liebe im Einklang stehen können und niemals aus Mangel daran kränklich oder gemein werden. Es ist jedoch eine schwere Aufgabe. Sie liebten ihren Vater und sahen ihn langsam, über einen Zeitraum von vier Jahren hinweg, dem Wahnsinn und der Verzweiflung anheimfallen – ein Zustand, in dem er nichts Lebendiges lieben konnte, sondern im Gegenteil die ganze Zeit um sich schlug, um irgendein atmendes Geschöpf zu verwunden, weil die anderen so leiden sollten wie er, um zu wissen, was er fühlte.
Ich kann kaum ertragen, zu berichten, wie oft sich sein Zorn über den Kindern entlud, die er dann anschrie und verfluchte. Er erhob sogar die Hand gegen sie, um sie zu schlagen, oder schnappte sich irgendein Züchtigungsinstrument, wie eine Reitpeitsche oder einen Spazierstock, um zu versuchen, sie damit zu verprügeln.
Immer wieder kamen sie zu mir und fragten: »Mama, was ist mit Papa? Womit haben wir ihn so in Wut versetzt?« Und ich versuchte ihnen dann zu erklären, daß er nicht über sie in Verzweiflung geriet, sondern über sich.
Wenn er nur nicht diesen Traum von der lieblichen Musik gehabt hätte …
Oft habe ich gedacht, daß es keinesfalls ein gewöhnlicher Traum gewesen sein konnte, weil dessen Lebenszeit nicht länger ist als ein Augenblick oder aber, sollte er noch nachklingen, ein einziger Tag, um an dessen Ende mit der Dunkelheit zu verschwinden. Doch dieser Traum verließ Johnnie O’Fingal nie. Wenn es aber kein gewöhnlicher Traum war, was war es dann?
Nach über einer Woche schlafloser Tage und Nächte nahm ich ihn in mein Bett, hielt ihn in den Armen und sagte zu ihm: »Johnnie, du weißt, daß dieses Ringen um deine verlorene Musik aufhören muß. Es ist sinnlos, sich so zu quälen. Sieh doch, wie blaß und matt du bist und wie unsere Kinder aus Angst vor dir durchs Haus schleichen, als wärst du ein Gespenst. Bitte hör auf mich, wenn ich dir sage, daß du dir diesen Traum aus dem Kopf schlagen mußt. Du mußt ihn vergessen, mein Lieber! Denn er hat dich verlassen und kehrt nicht zurück.«
Erschöpft sah er mich an. »Du verstehst das nicht, Francesca«, sagte er, »wenn du das Lied gehört hättest – seinen unendlichen Zauber –, dann würdest du Tag und Nacht mit mir versuchen, es wieder heraufzubeschwören. Du mußt mir glauben, daß es anders war als alle Musikstücke, die ich in meinem ganzen Leben gehört habe. Ich weiß, daß es alle Welt bewundern würde, daß die Menschen weinen und spüren würden, wie es ihr Wesen mit Freude erfüllt, so wie meins im Traum. Etwas so Bedeutendes kann doch nicht verloren sein! Sag nicht, daß es das ist, denn ich weigere mich, es zu glauben. Ich muß Geduld haben, das ist alles. Wir müssen alle Geduld haben, denn ich merke, daß mich meine Suche von dir und den Kindern sowie meinen Pflichten in den Ländereien entfernt hat. Doch ich komme bald zurück. Sobald ich das Lied gefunden habe, bin ich wieder ich selbst und bringe alles in Ordnung, und alles wird gut.«
Er war so hartnäckig davon überzeugt, daß aus seinem Traum eines Tages etwas Konkretes werden könnte, daß ich beschloß, ihn nicht weiter zu belästigen und zu schelten, wie ich zutiefst versucht war, sondern still zu
Weitere Kostenlose Bücher