Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
danach, nie wieder nach Hause zurückzukehren, sondern wie Marcus zu sterben und in eine andere Welt eigener Vorstellung einzutauchen.
Es war der Schlüssel zur Bodenkammer, der die nächste Phase im Tilsen-Haus einleitete.
Eines Tages, als Johann draußen nach Marcus suchte, ließ Magdalena Wilhelm zu sich ins Schlafzimmer kommen. Sie hatte Ulla bei sich, die sie gerade stillte, als der Knabe hereinkam.
»Wilhelm«, sagte Magdalena und schenkte ihm das strahlende Lächeln, von dem Ingmar immer in seinen Träumen heimgesucht worden war. »Hast du Angst, dein Vater könnte dich wie Ingmar von hier weg nach Kopenhagen schicken?«
»Nein«, erwiderte Wilhelm.
»Also nein.« Sie lächelte. »Du hast ganz recht, denn es wird nicht geschehen, weil es rein rechnerisch nicht sein kann. Wie viele Söhne kann ein Vater zu verlieren ertragen?«
Magdalena nahm Ulla von der Brust und legte sie neben sich auf die Decke. Langsam, Wilhelm dabei nicht aus den Augen lassend, nahm sie dann die große weiße Brust in die Hand und steckte sie ins Kleid zurück.
Sie gab Wilhelm den Schlüssel zu ihrer Dachkammer und fünf Skillings. Sie sagte ihm, er solle den Schlüssel zu dem Hufschmied im Dorf bringen, dort ein genaues Duplikat anfertigen lassen, zurückkommen und diesen Zweitschlüssel in einem seiner Stiefel verstecken und keiner lebenden Seele etwas davon erzählen. Dann bat sie ihn, neben ihr Platz zu nehmen, und streichelte ihm übers Haar, das nicht weich und lockig wie Ingmars war, sondern dick und elastisch wie das seines Vaters. »Was für hübsches Haar!« meinte sie. »Ich habe es schon immer bewundert.«
Wilhelm, der sechzehn Jahre alt war, ein Jahr jünger als Ingmar, dessen Vertrauter er war, da dieser ihm zu später Nachtstunde die Einzelheiten seiner Einweihung erzählt und sogar gesagt hatte, er solle auch zu Magdalena gehen, »denn das ist es, was ihr gefällt, daß es zwei oder drei von uns sind und sie uns alle zu ihren Sklaven macht«, nahm den Schlüssel. Er machte alles so, wie sie es ihm aufgetragen hatte. Er versteckte den vom Schmied gefertigten Schlüssel und wartete, bis Johann Magdalena das nächste Mal in die Dachkammer sperrte und fortging.
Dann rief ihn Magdalena. Er holte den Schlüssel aus seinem Stiefel, schloß die Dachkammer auf und dann von innen wieder ab. Magdalena lag auf dem Bett, den Rock so weit hochgezogen, daß ein Stück ihrer weißen Schenkel über den roten Strümpfen zu sehen war. Sie streckte Wilhelm die Hand hin und sagte, er solle keine Angst haben.
Doch Magdalena ließ sich nun in ihrer unstillbaren Gier nach Macht im Haushalt mit Wilhelm auf so gefährliche Handlungen ein, daß selbst sie, wenn in der Tiefe der Nacht der Sturm ums einsame Tilsen-Haus fegte, sich davor zu fürchten begann, was Johann tun würde, wenn er diese Dinge (die nicht mehr so liebevoll wie mit Ingmar, sondern häßlich und wild waren) erfahren würde. Doch je schwindelerregender ihre Angst vor Johanns Zorn wurde, desto erfindungsreicher wurde sie in der Versklavung seines zweitältesten Sohnes.
Was Wilhelm anging, so begann er allmählich zu glauben, daß sein Leben dem Untergang geweiht war. An seinen verlorenen Bruder in Kopenhagen schrieb er: Hilf mir, Ingmar, denn ich befinde mich in tödlicher Gefahr. Ich tue, was Du getan hast, und kann nicht aufhören damit. Ich möchte es, kann es aber nicht, und ich weiß, daß ich sterben und zur Hölle fahren werde, wenn ich nicht aus meiner Bedrängnis erlöst werde.
DAS INSEKTENZIMMER
Auf Boller verkündet Kirsten Munk Ende Januar, daß sie es leid sei, im Dunkeln zu leben, der ständigen Schatten und des Tropfens der Kerzen überdrüssig sei. Sie läßt die Läden öffnen und die Vorhänge aufziehen. Zu Emilia sagt sie: »Wir können nicht länger so eingeschlossen leben. Wenn dein Vater kommt, müssen wir Marcus eben im Keller verstecken, und damit hat sich’s. Und wir werden keine Skrupel haben, Herrn Tilsen anzulügen, denn er hat uns ja auch angelogen.«
Marcus schläft jetzt nicht mehr auf der Liege in Emilias Zimmer. Er hat »ausreichend von Kirstens Schlafzimmer entfernt« einen kleinen Raum erhalten, damit sie ihn in der Nacht nicht mehr weinen hören kann. Und dieser Raum ist einer der wenigen auf Boller, den Ellen Marsvin unverändert gelassen hat. Er ist so winzig, daß er fast wie ein Wandschrank ist, und hat vielleicht auch einmal zum Aufbewahren und Bügeln der Kleidung gedient. Seine Wände sind von oben bis unten mit seltsamen,
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