Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
sein und ihm in seinen Kämpfen beizustehen, die Kinder von ihm fernzuhalten und selbst einige seiner Aufgaben zu übernehmen, wie das Einkaufen von Vieh und Frühjahrssaat, die Beaufsichtigung der Reparaturen an den Schornsteinen und Dächern nach den großen Stürmen und anderes, worum er sich hätte kümmern müssen.
Ich wies auch die Diener an, das Virginal von der Halle (wo man Johnnies verzweifeltes Spielen im ganzen Haus hören konnte) in die Bibliothek zu bringen, wo er wenigstens allein, bei geschlossener Tür, seiner schrecklichen Arbeit nachgehen konnte. Ich selbst gelobte mir im stillen, einen Monat vergehen zu lassen und dann darauf zu bestehen, daß Johnnie mich und die Kinder nach Bologna begleitete, wo sein unerträglicher Traum in der veränderten Umgebung des Hauses meines Vaters vielleicht allmählich verschwinden und aufhören würde, ihn zu quälen.
Dieser Monat, nur von Ärgernissen und Unglück bestimmt, war fast zu Ende, und die Pläne für unsere Reise nach Bologna waren schon weit gediehen, als ich eines Abends am Kamin saß und Luca und Giulietta laut ein paar meiner Lieblingszeilen aus Shakespeares Sonetten vorlas:
O nimmer sprich zu mir: »Treulose Seele!«
Schien Trennung gleich zu wandeln meine Glut:
Weil ich so leicht mir selber ja mich stöhle
Als meinem Geist, der dir im Busen ruht.
Plötzlich unterbrach Johnnie meinen Vortrag mit den Worten: »Francesca, jetzt habe ich die Melodie fast!«
Ich legte mein Buch aus der Hand. »Fast?« fragte ich.
»Ich bin nahe daran! Das ist es, was ich meine. Ich fühle sie kommen. Sie ist so nah, daß ich sie fast höre …«
Dann bestand er darauf, daß ich und die Kinder mit ihm in die Bibliothek gingen. Wir mußten nebeneinander auf Stühlen Platz nehmen. Als ich unsere Reihe entlangblickte, sah ich, daß alle Kinder, sogar mein tapferer Vincenzo, vor Angst ganz benommen waren.
Johnnie spielte etwas vor: ein paar Akkorde in D-Dur. Dann wiederholte er diese langsam, einen nach dem anderen. Dazwischen murmelte er fast sinnlose Worte. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, doch es waren in etwa folgende: »… und dann geht es, steigt auf und kehrt zurück, ein Triller, ein zarter Eine-Note-Triller, und dann das Tal, oder wie soll ich das nennen, jedenfalls ein Ort mit Echos, der die Melodie zurückbringt …« Daraufhin noch ein schwerer Akkord und weitere Worte: »Es muß also, es muß also in dieser Tonart sein, die tiefste Echokammer, wie das Herz, wie das menschliche Herz oder wie ein Rufen auf den Bergen oder wie dieser, wie dieser Akkord, wie das Meer …«, und dann noch ein Akkord und noch einer und so weiter, und dann plötzlich Schweigen, während wir alle still und versteinert auf unseren Stühlen saßen und Johnnie den Kopf auf das Virginal legte und gleich einzuschlafen schien.
Ich erhob mich und schickte die Kinder zu Bett. Dann trug ich Johnnie mit den Dienern ins Schlafzimmer, wo wir ihn hinlegten und zudeckten. Ich ließ den Stallburschen kommen und sagte ihm, er solle nach Cloyne reiten und Doktor McLafferty holen. Während ich wartete, hielt ich Wache am Bett meines Mannes, der tatsächlich schlief, aber im Schlaf immer wieder aufschrie, als ginge seine Suche weiter und finde seine Seele keine Ruhe.
Doktor McLafferty, dem die Diener vom seltsamen Zustand des Grafen O’Fingal berichtet hatten, brachte einen Trank aus Klee, Honig und Zinnober mit und erklärte mir, dieser würde »den Schmerz im Gehirn lindern«. Er rieb Johnnies Stirn sanft damit ein, doch noch während des Auftragens sah ich rote Flecken wie bei einer Schuppenflechte auf seiner Haut auftauchen und hieß den Arzt aufzuhören. »Nein, Lady O’Fingal!« sagte er. »Ich bitte Eure Ladyschaft um Verzeihung, doch diese Striemen sind ja gerade der Beweis für die Wirksamkeit meiner Salbe. Seht Ihr, diese hübschen Streifen sind die große Qual, die aus dem Grafen herauskommt. Bitte habt Geduld! Laßt, wenn es sein muß, sein ganzes Gesicht mit Schwären bedeckt sein, laßt sie aufbrechen und wie Vulkane faules Zeug ausspeien. So wird seine Seele in ein paar Tagen ruhig wie ein Teich sein.«
Der Arzt ging wieder, und ich hielt an Johnnies Bett Wache, während dieser schlief. Um mich munter zu halten, las ich ein wenig in der großen Tragödie König Lear und betete darum, daß mein armer Mann wie der alte König durch lindernden Schlaf von seinem Wahnsinn geheilt würde. Doch ihn konnte keine Zinnobersalbe heilen. Auch kein sanfter Schlaf. Kaum
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