Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
werde kommen, an dem ich sie hinauswerfe, so wie ich Emilia hinausgeworfen habe, weil ich es nicht ertragen kann, Leute in meiner Nähe zu haben, die mich nicht lieben. Doch sie lächelt nur ihr Fuchslächeln. »Keine Angst, Kirsten!« sagt sie. »Vibeke und ich fahren bald nach Kopenhagen, und dann bist du ganz allein.«
Diese Erkenntnis, daß mir die äußerste Einsamkeit bevorsteht, ruft in mir grausame Traurigkeit hervor.
Ich bin ein Mensch, der es nicht ertragen kann, allein zu sein. Ich möchte behaupten, daß ich schon bei meiner Geburt lauthals nach Geselligkeit und Lachen verlangt habe.
Was soll ich tun, wenn mir König Gustav die Einreise nach Schweden verweigert?
Ich glaube, dann bringe ich mich um. Ich habe mein Töpfchen mit dem weißen Gift, gebe aber zu, daß ich bei dem Gedanken, es zu nehmen, zu zittern anfange, weil ich nicht weiß, was danach geschieht, auch nicht, ob es absolut tödlich ist oder ob ich es vielleicht wieder erbreche und unter Qualen auf dem Boden liege, nur um dann doch ins Leben zurückgerufen zu werden. Das Risiko könnte groß sein. Wahrscheinlich muß ich zu einem der melancholischen Gelehrten gehen und ihn, dessen Hirn vollgestopft mit Wissen ist, nach Mitteln fragen, die entdeckt worden sind, um sich das Leben sicher und ohne die Unannehmlichkeit des Schmerzes und Leidens zu nehmen. Ich weiß nicht recht, wie dies vor sich gehen kann. Es sei denn, ich schieße mir mit der Muskete in den Mund. Aber sind denn meine Arme lang genug, um diese hochzuhalten und auf mich zu richten, ohne mir unabsichtlich ein Bein wegzusprengen oder ein gewaltiges Loch in die Wand zu schlagen? Und deshalb geht mir durch den Kopf, daß uns der Tod zwar als einfache Sache erscheint, er dies aber vielleicht gar nicht ist, besonders für diejenigen, die ihn sich wünschen, weil dem menschlichen Herzen oft gerade das, was es sich wünscht und wonach es sich sehnt, vorenthalten wird.
Und so leide ich an Anfällen von Elend und Kummer wie noch nie zuvor in meinen einunddreißig Jahren.
Auch bei meinem Baby Dorothea finde ich keinen Trost. Sie ähnelt dem Grafen zwar, was Teint, Haar- und Augenfarbe angeht, doch in keiner sonstigen Hinsicht. Sie ist einfach wie alle anderen Babys auch, und das heißt: häßlich und übelriechend, sie schielt, wimmert und furzt, ist unbequem, zornig und erbärmlich. Wenn ich vor ihrer Geburt behauptet habe, ich würde sie lieben und hegen, dann hatte ich wohl vorübergehend vergessen, wie Babys sind und daß mich alle dermaßen irritieren, daß ich sie liebend gern in einen Fischtopf stecken und auf dem Herd kochen würde, um ihr zartes Fleisch zum Abendessen zu verspeisen.
Früher fand ich Trost bei Emilia – im Gespräch mit ihr, in ihrer Liebenswürdigkeit und unseren kleinen gemeinsamen Unternehmungen –, doch sie ist weg.
Als mein Blick gestern abend auf die beiden bemalten Eier fiel, die sie mir zu Weihnachten geschenkt hat, wollte ich sie zusammen mit dem Abfallpapier, den verbrauchten Federkielen und der kalten Asche wegwerfen. Doch dann spürte ich ein Würgen im Hals, und sentimentale Tränen traten mir in die Augen. Daher legte ich sie nur in die Schublade zwischen unsere alten Blumenbilder, die wir an den Sommerabenden auf Rosenborg gemalt haben und die ich aufgehoben habe, wenn ich auch nicht weiß, warum.
Natürlich ist mir klar, daß die Eier inzwischen faul sind, doch ist ihre Verwesung noch unter ihrem hübschen, gemalten Äußeren versteckt. Deshalb würde ich gern jemandem sagen, wie sehr der Zustand der Eier doch dem so vieler Leute gleicht, die vielleicht ein hübsches Gesicht haben, wie auch ich einmal, im Innern aber ganz verdorben sind.
Doch es gibt niemanden auf Boller, dem gegenüber ich eine solche Bemerkung machen könnte. Weder im Kopf meiner Mutter noch in Vibekes befindet sich auch nur ein Körnchen philosophische Neugier.
ÜBER BETTÜCHER UND GRÄBEN
Wenn der Winter fast vorbei ist und die Reiher zum Frederiksborger See zurückkehren, wenn der Frühling sein Kommen zwar schon mit ein oder zwei frostunempfindlichen Boten ankündigt, aber noch nicht ganz da ist, reitet König Christian gern in sein Königreich hinaus, um zu sehen, was dort vor sich geht.
Er verläßt dann die im Besitz der Krone befindlichen Landesteile (wo die Leibeigenschaft verboten ist und die Bauern in Geld oder Naturalien für ihre Arbeit entlohnt werden) und fährt zu den großen Acker- und Waldgebieten, die noch in den Händen des Adels sind und wo die
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