Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
war er wieder wach, rannte er auch schon in die Bibliothek hinunter und setzte seine verrückte Suche fort. »Von vorn!« hörte ich ihn rufen. »Von vorn!«
Ich reiste mit den Kindern nach Bologna. Obwohl ich Johnnie auf den Knien und schluchzend unter Tränen anflehte, uns zu begleiten, weigerte er sich. Wieder einmal sagte er mir, er sei »nah, ganz nah« an seinem Ziel und glaube nun, in der Stille nach unserer Abreise, in der Einsamkeit, die unsere Abwesenheit hervorrufen würde, endlich die Melodie zu finden.
Ich schrieb ihm aus Bologna viele Briefe, in denen ich ihm meist von Trivialem berichtete, wie vom Kauf schöner italienischer Seide für neue Kleider für die Mädchen und von der Freude, die es meinem Vater machte, seine Enkelkinder zu verwöhnen, erhielt aber keine Antwort. Obwohl es eine große Versuchung für mich bedeutete, weiterhin bei meinem Vater zu bleiben, wo die Kinder einigermaßen ihre frühere Fröhlichkeit und Liebenswürdigkeit wiedergewonnen hatten, wußte ich, daß ich nach Cloyne zurückkehren mußte. Ich wußte allerdings nicht, was ich dort vorfinden würde.
Eine schreckliche Stille fand ich vor.
Das Virginal war geschlossen, mit einem Vorhängeschloß versehen und unter einem Wandteppich verborgen.
Johnnie O’Fingal, dessen Gesicht noch immer von der durch die Zinnobersalbe verursachten Schuppenflechte entzündet war, der aber außerdem totenblaß bis zu den Schläfen und ganz und gar ausgezehrt war, saß vollkommen still und unbeweglich in einem Lehnstuhl.
Ich rannte zu ihm hin, legte die Arme um ihn und meine Wange an seine. »Mein Lieber!« rief ich. »Erzähl mir, was geschehen ist, daß du so dünn und still bist. Sind meine Briefe angekommen? Oh, berichte, was während unserer Abwesenheit auf Cloyne geschehen ist.«
Johnnie antwortete nicht und umarmte mich auch nicht. Die Kinder standen dabei und beobachteten uns, und Giulietta begann ihrem Vater in Italienisch von ihren großen Abenteuern auf dem Schiff, das uns heimgebracht hatte, zu erzählen. Er beachtete sie nicht und schien sie nicht zu hören. »Oh, mein Herr und Gebieter!« begann ich wieder und spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. »Deine Frau Francesca und die Kinder sind da. Sieh doch, sie sind bei dir! Und wir haben dich so vermißt. Willst du nicht mit uns sprechen?«
Er bewegte sich auf dem Stuhl. Ich spürte, wie er die Arme hob, und dachte, er wolle mich näher an sich heranziehen. Seine Hand kroch zu meinem Hals hoch und umschloß ihn; ich spürte, wie sich seine Finger in mein Fleisch gruben und allen Atem aus meinem Körper quetschten. Ich schrie auf, und die beiden Knaben kamen zu mir gerannt, schlugen die Hand von meinem Hals und entrissen mich dem Griff ihres Vaters. Ich stolperte und fiel auf die Knie, und die Kinder drängten sich in Todesangst um mich.
Johnnie O’Fingal saß still und starr auf seinem Stuhl. Er sah uns nicht an, sondern schien seinen Blick auf einer weit entfernten Szene seiner Phantasie ruhen zu lassen.
Beim Erzählen wird alles wieder lebendig. Wie ich sehe, ist meine Schrift sehr krakelig und abfallend geworden.
Noch etwas möchte ich bemerken. Heute ist Giuliettas Geburtstag. Sie ist acht Jahre alt geworden.
DER KNABE, DER SEINEN NAMEN NICHT SCHREIBEN KONNTE
Sie standen im Morgengrauen auf. Sie beteten gemeinsam in der hohen Schulhalle, während sich die Fenster langsam mit Licht füllten. König Christian erinnert sich noch daran, daß es in der alten Koldinghus-Schule nach Holz roch, als würde ein Teil davon zersägt, um aus den Balken einen neuen Trakt zu errichten. Im Sommer wurde dieser Holzgeruch fast unerträglich süß. Sein Freund Bror Brorson sagte einmal: »Man kommt sich in der Koldinghus vor, als lebe man in einem Faß.«
Die Reisen des Knaben Christian mit seinen Eltern König Frederik und Königin Sofie waren vorbei, die Zeiten, in denen er den Kater Nils und die Goldfische im Seerosenteich von Frederiksborg malte, waren vorbei, ebenso seine nächtlichen Unterhaltungen mit dem jungen Trompeter. Er hatte schon eine Weile gewußt, daß all dies einmal vorbei sein und er in der Koldinghus-Schule unter dem Auge des Rektors Hans Mikkelson leben würde. Es gefiel ihm aber nicht. Er sagte zu Bror Brorson: »Die Vergangenheit füllt sich schon zu schnell.«
Seine Schulkameraden wie Bror Brorson waren Söhne aus dem Adel. Nur hochgeborene Kinder wurden zur Koldinghus geschickt. Vormittags wurden sie in Latein, Deutsch, Französisch, Italienisch,
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