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Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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ist, dann fiel sie von …«
    »Sie ist nicht geschlagen worden!« erklärt Johann noch einmal. »Ich habe Euch geschworen, daß ich nicht Hand an meine Frau gelegt habe.«
    »Nun«, sagt der Arzt, »was immer auch geschehen ist, sie wird eine Fehlgeburt erleiden.«
    Johanns Hände zittern. Er fährt sich mit den Fingern durchs schüttere, graue Haar. »Was meint Ihr?« fragt er zerstreut.
    Der Doktor sieht Johann Tilsen aufmerksam an. Er kennt ihn schon mehrere Jahre und hat ihn immer für einen guten Mann gehalten. »Sie wird das Kind verlieren«, wiederholt der Arzt und fügt hinzu, als er Johanns Verwirrung und Erschrecken sieht: »Vielleicht hat sie Euch nichts davon gesagt?«
    »Nein«, antwortet Johann trostlos. »Sie hat es mir nicht gesagt.«
    »Nun. Da haben wir es, Johann! Wer kann schon sagen, warum sie es Euch nicht gesagt hat? Jedenfalls bin ich sicher, daß sie das Kind verliert.«
    Dann geht der Arzt, nachdem er angekündigt hat, daß er wiederkommt.
    Johann Tilsen setzt sich hin. Er starrt ins Feuer. Marcus kommt mit seinem Kater Otto auf dem Arm zu ihm und legt ihn Johann wie ein Geschenk in den Schoß. Dann stellt er sich neben seinen Vater, faßt ihn an der Schulter und sagt nach einer Weile: »Stirbt Magdalena?«
    Der Kater schnurrt leise. Die Flammen des Feuers sind hell. »Ich weiß es nicht, Marcus«, erwidert Johann.

    Nach einigen Stunden gibt Magdalenas Körper den winzigen Fötus her; der Arzt nimmt ihn, steckt ihn in einen Sack und vergräbt ihn im Boden.
    Doch das Bluten hört nicht auf. Wieviel Blut ist bloß in ihr, fragt sich Johann, daß soviel herausfließen kann?
    Magdalena flüstert ihm mit schwacher Stimme zu, was sie beschäftigt: Sie sagt zu Johann, Ingmar solle aus Kopenhagen zurückgeholt werden, er sei gestraft genug. Sie sagt außerdem, für Ulla müsse eine liebe Amme gefunden werden. Und sie bittet Johann, ihr zu verzeihen.
    »Was soll ich dir verzeihen?« fragt Johann.
    »Du weißt schon, was«, erwidert sie und schließt die Augen, womit sie ihn wirkungsvoll daran hindert, noch etwas zu sagen.
    Obwohl Emilia an Magdalenas Bett sitzt, sie sogar mit Brühe füttert und die Aufgabe übernimmt, die durchnäßten Lappen auszuspülen und auszutauschen, die ihr in dem Versuch, das Blut zu stillen, zwischen die Beine gepreßt worden sind, läßt sich keiner der Knaben blicken. Boris und Matti rechnen im Schulzimmer, bedecken schweigend Seite um Seite mit Zahlen, und Marcus liegt mit seinem Buch Bilder aus der Neuen Welt neben ihnen auf dem Boden und malt Gespenstheuschrecken, Falter und Maiskolben.
    Als Johann sie dort antrifft, so gut und ruhig, so offensichtlich in ihre Arbeit vertieft, fragt sie Johann, ob sie wüßten, wo Wilhelm ist, doch sie verneinen es. Sein Zimmer ist leer, und er ist seit Mittag, als er das Essen mit den Worten verweigerte, er habe Schmerzen »irgendwo in mir; ich fühle mich nicht wohl«, nicht mehr gesehen worden.
    Johann macht sich auf die Suche und findet ihn schließlich auf einer Stufe vor den Ställen. Wilhelm blickt nicht auf, als sein Vater zu ihm kommt. Er konzentriert sich auf eine Aufgabe, und diese läßt er nicht aus den Augen. Er hat einen langen Stock aus dem für das Abstecken der Himbeerreihen bestimmten Haufen gezogen und schnitzt nun mit einem schweren Messer einfache Muster hinein. Er hat sich an einigen Stellen in die Finger geschnitten, so daß ein bißchen Blut auf das weiße Holz des Stocks sickert, dem Wilhelm allerdings keine Beachtung schenkt. Als Johann ihn anspricht, fährt er mit dem Schnitzen des harten Holzes fort. Er befingert die graubraunen Abschnitte, die er stehenlassen will, und dreht den Stab in den Händen, um zu sehen, ob die Muster rundum gleichmäßig sind.
    »Was macht dein Unwohlsein?« fragt Johann. »Ist es vorbei?«
    »Nein«, antwortet Wilhelm.
    »Wäre es dann nicht besser, wenn du nicht hier draußen in der Kälte sitzen würdest?«
    Wilhelm antwortet nicht. Er fährt einfach mit seiner Arbeit fort, als laufe er mit der Zeit um die Wette und müsse noch vor Sonnenuntergang damit fertig werden. Erst in diesem Augenblick kommen Johann Tilsen im Hinblick auf seinen zweiten Sohn gewisse Gedanken; er starrt ihn an, wie er mit seinem Messer und seinem Stock dasitzt, und überlegt, welche Konsequenzen es hat, wenn er ihm eine ganz bestimmte Frage stellt.
    Es ist, als könne Wilhelm die Frage hören, bevor sie ausgesprochen ist, denn Johann sieht in seinem gesenkten Blick eine plötzliche Leere, so daß er

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