Melodie der Stille: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
jemand.«
Langton Smythe wirft dem König einen hochnäsigen Blick zu, den verdrossenen Blick des englischen Rationalisten, der nichts von Prophezeiungen und Aberglauben hält (oder jedenfalls so tut, als halte er nichts davon). »Darf ich bemerken«, meint er, »daß Euch ein großer Geldbetrag wahrscheinlich mehr Schutz bietet als ein einzelner Lautenspieler?«
König Christian denkt darüber nach, schaut zum Fenster hinaus, wo der Himmel grau verhangen ist und sich die Fliederknospen zu öffnen weigern, und sagt schließlich: »Mein Neffe Charles hat eine Französin geheiratet und neigt zu einem französisierten Stil. Warum bieten wir ihm nicht Pasquier an?«
Der Botschafter schüttelt den Kopf. »Ich hatte den Eindruck, daß sein Herz an Claire hängt.«
»Dann befinde ich mich in einem Dilemma«, seufzt der König.
Später am Abend läßt er Peter Claire kommen und für sich und Vibeke auf der Laute spielen.
Vibeke lächelt die ganze Zeit und zeigt dabei ihre Elfenbein-zähne, und Peter Claire stellt fest, daß sie zwar eine nicht besonders schöne Frau ist, jedoch durch ihre Gegenwart Christians Ruhelosigkeit auf wundersame Weise dämpft.
Er setzt zu einem Liebeslied an – das erste, das er sich seit Kirstens Weggang zu spielen getraut. Er sieht, wie der König bei den sentimentalen Worten still nach Vibekes Hand greift.
Als sich Vibeke nach der Musik zurückzieht, will er sich verabschieden, doch der König bittet ihn, neben ihm Platz zu nehmen. Christian mustert Peter Claires Gesicht mit seiner üblichen Intensität und fragt: »Was ist los mit Euch, Mr. Claire? Sagt Ihr es mir?«
Peter Claire würde sich ja gern jemandem anvertrauen, jemandem die plötzliche und unerklärliche Stille und den reißenden Schmerz in seinem Ohr beschreiben, der ihn immer wieder ohne Vorwarnung befällt und ihm das Gefühl gibt, nicht nur von einer glücklichen Zukunft, sondern von der ganzen Welt ausgeschlossen zu sein. Er kommt jedoch zu dem Schluß, daß er dies dem König unmöglich eingestehen kann. Denn welcher vernünftige Mensch würde schon einen Musiker im Dienst behalten, der vielleicht sein Gehör verliert? »Es ist nichts, Sir«, sagt er, »bloß …«
»Bloß?«
»Ich werde manchmal von dem Gedanken heimgesucht … mir kommt manchmal zu Bewußtsein … daß ich gewisse Leute vernachlässigt habe, die …«
»Ihr meint Eure Familie in England?«
»Ja! Aber nicht nur …«
»Sie schreibt Euch Briefe, in denen sie Euch bittet, zur Hochzeit Eurer Schwester zurückzukehren, nicht wahr?«
»Ja!«
»Ich kann verstehen, daß Ihr gern nach England reisen würdet. Warum bittet Ihr Eure Schwester nicht, ihre Hochzeit zu verschieben, bis …«
»Bis, Sir?«
»Bis … ich sicher bin, daß ich Euch nicht mehr brauche.«
Nachdem Peter Claire gegangen ist, zieht sich der König in sein Schlafgemach zurück, wo Vibeke auf ihn wartet. Ihr Haar ist jetzt zu dicken Zöpfen geflochten, und sie reibt sich den Gaumen mit Nelkenöl ein.
Beim Auseinandergehen haben beide Männer überlegt, was bei dem Gespräch soeben alles hätte gesagt werden können, aber ungesagt blieb. Und das Wissen darüber, wieviel oft im Schweigen zwischen den Worten liegt, löst bei beiden Unbehagen und Verwunderung über die quälende Vielschichtigkeit von Gesprächen aus.
ALEXANDER
Er kommt bei Einbruch der Dunkelheit dieselbe Straße hinauf wie seinerzeit Herr Gade, der Abgesandte des Königs, mit seiner mageren Ladung von Hühnern und Stoff.
Seine Augen sind gelbrot, entzündet von der bitteren Kälte, den Entbehrungen und all dem, was er auf seiner Reise durch Rußland gesehen hat. Er stinkt wie die Pest.
Diesmal ist es nicht Rotte Møller, der ihn zuerst sieht. Doch die Leute im Dorf, die ihn in zerrissenen Fellen und mit verbundenen Händen zu Gesicht bekommen, können sich sofort denken, wer er ist, und bringen ihn zu Møller. Denn für so jemanden, davon sind sie fest überzeugt, sind nicht sie, sondern Rotte Møller verantwortlich. Sie können nur abwarten, ob ihn Møller mit den wenigen Worten Russisch, die er sich beibringen konnte, versteht.
Er heißt Alexander.
Møller deckt sein Feuer mit Kohlenstaub ab, läßt ihn daneben Platz nehmen und löst ihm die Verbände von den Händen, an denen drei Finger fehlen. Er reinigt sie und läßt den Arzt kommen, um ihn zu untersuchen. Eiter läuft Alexander aus den Augen und über die Wangen in seinen dicken Bart. Er spricht nur Russisch und jammert laut – wegen seiner schmerzenden
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